Der Donner Bericht
Das Original dieses Textes befindet sich im Homöopathie-Archiv des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Straussweg 17, D-70184 Stuttgart, Deutschland.
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Bemerkungen zu der Überprüfung der Homöopathie durch das Reichsgesundheitsamt 1936 bis 1939
von
Fritz Donner
I.
Nach Biers Eintreten für die Homöopathie (1925) begann das Reichsgesundheitsamt (RGA) mit Vorbereitungen für eine Überprüfung der Homöopathie auf ihren tatsächlichen Wert. Das gesamte Material über diese ernsthaften Bemühungen hat Bombenkrieg und Nachkriegswirren überlebt und wird zur Zeit pharmakologischerseits für eine Veröffentlichung bearbeitet. Es dürfte nicht unangebracht sein, wenn ein Augenzeuge einiges über seine Beobachtungen während dieser Untersuchungen mitteilt.
Bei einer Heilmethode wie der Homöopathie, der bisher Forschungsinstitute zur Verifizierung früherer Arzneiprüfungsergebnisse und zur klinischen Nachprüfung aus der Praxis stammender Empfehlungen vollkommen fehlten, ist von vorneherein nicht zu erwarten, daß bei einer eingehenden Überprüfung sich alles als richtig erweisen wird, was von Hahnemann und seinen Nachfolgern behauptet worden ist. Als Ergebnis der 1936 bis 1939 durchgeführten praktischen Untersuchungen ist zu vermerken, daß es dem damaligen Vorsitzenden der homöopathischen Ärzte, H. Rabe, weder im Arzneiprüfungsversuche noch bei seinen therapeutischen Bemühungen an von ihm selbst ausgesuchten Kranken gelungen ist, irgend einen Erfolg zu Gunsten der Homöopathie zu erzielen. Woran lag das? Lag es etwa an der tatsächlichen Situation der Homöopathie oder an dem homöopathischen Kollegen? Diesen Fragen muß doch ‘sine ira et studio’ nachgegangen werden!
Bereits wenige Tage nach Beginn meiner Tätigkeit am Stuttgarter Homöopathischen Krankenhaus (1927) bekam ich einen Einblick in die Situation der Homöopathie. Als damals die beiden Chefärzte des Hauses Vorträge über das Mittel Apis mellifica abhielten, legte H. Meng besonderen Wert auf die Leitsymptome des Mittels, so auf die ‘Rechtsseitigkeit der Mittelwirkung’, das ‘Säckchen am rechten unteren Augenlide’, die ‘Durstlosigkeit’ u.a.m., um zuletzt noch die Wirksamkeit von
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Apis bei ‘rechtsseitigen Ovarialzysten’ zu erwähnen, während bei linksseitigen Zysten das ‘linksseitig wirkende’ Lachesis zu verordnen wäre. Als aber ein Assistenzarzt dann wissen wollte, ob denn Apis bei linksseitigen Zysten überhaupt nicht wirke, da konnte in der anschließenden Aussprache keine klare und überzeugende Antwort gegeben werden. Über die hier gewonnenen Eindrücke wurde nachmittags in der Wohnung von Karl Kötschau erregt debattiert. Schließlich wurde ich von den Mitassistenten beauftragt, die Arzneiprüfungen daraufhin durchzusehen, ob tatsächlich dabei eine Rechtsseitigkeit der Apiswirkung aufgetreten ist. Mein Quellenstudium ergab, daß ca. 78 mal Erscheinungen und Sensationen auf der linken Seite angegeben waren, aber nur ca. 40 mal auf der rechten. Außerdem beruhen die meisten Symptome keineswegs auf dem, was man als homöopathische Arzneiprüfung zu bezeichnen pflegt, sie waren nämlich durch Bienenstiche verursacht worden. So fand ich auch die rechtsseitige Schwellung des unteren Augenlides nach einem Stich in die Gegend des rechten Mundwinkels angegeben. Der Gestochene bekam ein starkes Ödem der rechten Gesichtshälfte, so daß die rechte Backe wie ein Säckchen auf die Brust herabhing …..
Die Mitteilung einer Wirksamkeit von Apis bei Ovarialzysten hatte einen Assistenten doch beeindruckt. Er besuchte daraufhin einen befreundeten Oberarzt einer Universitätsfrauenklinik und kam mit einem sorgfältig ausgearbeiteten Plane zur Klarstellung eventueller homöopathischer Möglichkeiten wieder zurück. Er wies uns darauf hin, daß kleinere Ovarialzysten, wie sie oft nach einem Follikelsprung auftreten, sich meist ohne jede Behandlung in Wochen und Monaten wieder zurückbilden. Man müßte also eine größere Zahl teils unter Placebo, teils unter Medikamenten längere Zeit beobachten und dann beide Serien miteinander vergleichen, und [er] stellte die Frage an die Chefärzte, ob man wohl einen von ihnen für diese Untersuchungen gewinnen könnte und wie hoch sie die Erfolgsquote einer homöopathischen Behandlung einschätzen würden. H. Meng gab dann unumwunden zu, daß er hierüber nichts aussagen könne, da bisher ernsthafte Untersuchungen nicht durchgeführt, sondern nur an und für sich ziemlich fragwürdig anzusehende Einzelfälle mitgeteilt worden wären; auch könne er nicht voraussagen, ob bei derartigen vergleichenden Untersuchungen überhaupt etwas Positives zu erwarten ist…..
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Auf dieses mein erstes Erlebnis bin ich eingegangen, um gleich ‘in medias res’ vorzustoßen, denn bei Vorbesprechungen über die Zusammensetzung der an den einzelnen Universitäten aufzustellenden Arbeitsgemeinschaften des RGA erfuhr ich, daß man für die Universität Halle den Kollegen T. vorgesehen hat. Ich wurde dann gefragt, wie man wohl am besten vorgeht – auch hinsichtlich der Potenzhöhe – wenn man bei einer Apisprüfung das ‘Säckchen am rechten unteren Augenlide’ hervorrufen möchte, denn Dr. T. habe doch auf einer Tagung behauptet, daß dieses ‘überaus wichtige Leitsymptom’ bei Arzneiprüfungen ‘immer und immer wieder’ aufgetreten ist. Als ich gegen diesen Plan Front machte, mußte ich mir sagen lassen, daß ich mit meinen Ansichten zur Arzneimittellehre ein ‘Einzelgänger’ wäre, auch habe man nicht den Auftrag erhalten, das zu überprüfen, was Herr Donner für richtig halte, sondern die Homöopathie, also das, was die damalige Prominenz der homöopathischen Ärzte als die ‘richtige Homöopathie’ propagiere. Dieses ‘Säckchen am rechten unteren Augenlide’ würde doch immer – auch auf Ärztekursen – erwähnt, falls man auf Apis zu sprechen komme – manche der Kollegen hätten sogar allen Ernstes behauptet, daß derartige Leitsymptome nur mit Hochpotenzen zu erzielen wären. Demnach sei man doch vollkommen im Recht, wenn man diese Angaben zum Gegenstande einer wissenschaftlichen Untersuchung macht. Daß man auch die Zystentherapie mit Apis und anderen Mitteln für überprüfungswert hielt, möge hier nicht unerwähnt bleiben. Man berief sich auf positive Äußerungen, die an homöopathischen Ausbildungsstätten in Mittel- und Süddeutschland gemacht worden waren, und erwog Nachprüfungen an den Frauenkliniken in Leipzig und Tübingen, für deren Durchführungen damals die Kollegen Schoeler und Unseld im Gespräch lagen.
Verhältnismäßig leicht ist es, sich im Nachprüfungsexperiment ein klares Bild über die Wertigkeit der einzelnen Arzneibilder zu machen. Gehen wir mit der nun einmal nötigen Kritik den Quellen der Arzneibilder nach, dann müssen wir feststellen, daß die wichtigste und sicherste Basis der meisten Arzneimittel unter Verwendung von Berichten über Vergiftungen und über Nebenwirkungen von Giften und Arzneistoffen geschaffen wurde. Eine weitere Quelle stellen die Ergebnisse von Arzneiprüfungen an gesunden Menschen dar. Hahnemann, der in der ersten Zeit an sich selbst und den Mitgliedern seiner Familie prüfte, benützte hierzu anfangs nur massive Gaben, also Tinkturen u.ä. Daß man hiermit Arzneisymptome tatsächlich
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erzielen kann, dürfte wohl niemand bezweifeln, denn ein Versuch mit Aloe, das seinerzeit in Tinkturen geprüft wurde, würde ihn schnell überzeugen.
Später, als Hahnemann Schüler um sich gesammelt hatte, nahm er auch an ihnen Arzneiprüfungen vor. Überraschenderweise zeigte sich aber, daß Dr. Stapf bei jeder Arznei, die er prüfte, erotische Symptome angab – es war eben in jenen Jahren, in denen Männer derartige Erscheinungen zu haben pflegen. Sie mit den geprüften Arzneistoffen in Zusammenhang zu bringen, dürfte doch ein sehr zweifelhaftes Unterfangen sein.
Ein weiterer seiner Prüfer war Langhammer, dessen Gemütssymptome bei allen Arzneien, die er prüfte, einander sehr ähnlich waren. Da er von allen, die ihn kannten, als depressiv und krankhaft in seinen Handlungen geschildert wird, können die von ihm geschilderten seelischen Erscheinungen wohl kaum der gerade eingenommenen Arznei zugeschrieben werden. Es schlichen sich also bereits bei den ersten Versuchen Hahnemanns erhebliche Fehlerquellen ein, die vor allem darauf beruhen, daß er und seine Schüler – bis in die Gegenwart herein – der Meinung waren, daß jedes Symptom und jede Abweichung vom normalen Zustande der Gesundheit, die ein Prüfer während der Zeit der Prüfstoffeinnahme an sich bemerkt, nur durch letzteren bedingt ist (Hahnemann, Organon der Heilkunst, 6. Auflage, § 138)(1).
Beim Studium von Hahnemanns ‘Reiner Arzneimittellehre'(2,3,4) stieß 1927 O. E. Guttentag im 2. Bande der 1. Auflage auf die Arzneiprüfungen des Magneten, die 716 Symptome gebracht hatten (237 bei Bestreichen des Prüfers mit dem Südpol des Magneten, 236 mit dem Nordpol und 243 mit beiden Polen). Er verglich das Magnetarzneibild mit dem im ersten Bande gebrachten des überaus toxischen Aconitum. Den 206 Prüfungssymptomen Hahnemanns bei Aconit standen also 716 des Magneten gegenüber. Dies erregte verständlicherweise großes Interesse bei den Assistenten, die sich mit den Chefärzten hierüber aussprechen wollten. Vor allem wollten sie auch eine Nachprüfung des Magneten durchführen, bei der die eine Hälfte der Prüfpersonen mit einem Magnetstabe in den verschiedenen Polungen bestrichen werden sollte, die andere aber nur mit einer Magnetstabattrappe, um so Klarheit darüber zu bekommen, was von den Magnetstabsymptomen zu halten ist. Den sehr präzise formulierten Fragen ihrer Assistenten nachgebend, räumten die Chefärzte dann sehr zögernd ein, daß die im Schrifttume niedergelegten Symptome des Magneten eben
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1. Hahnemann, Samuel: Organon der Heilkunst. 1921, 6.Aufl. S. 169.
2. Hahnemann, Samuel: Reine Arzneimittellehre. 1816, 1. Aufl. T. 2, S. 171-231.
3. Hahnemann, Samuel: Reine Arzneimittellehre. 1824, 2. Aufl. T. 2, S. 221-301.
4. Hahnemann, Samuel: Reine Arzneimittellehre. 1833, 3. Aufl. T. 2, S. 191-272;
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‘Phantasiesymptome’ wären. Als aber dann die Assistenten den naheliegenden Einwand vorbrachten, daß man, wenn man die 716 Magnetsymptome als reine Phantasiesymptome ablehne, dann doch auch bei den von Hahnemann bei anderen Prüfungen eruierten und in der ersten Auflage seiner ‘Reinen Arzneimittellehre’ veröffentlichten Arzneimitteldarstellungen mit einem sicher nicht geringen Prozentsatz von ‘Phantasiesymptomen’ rechnen müsse, zumal doch bei diesen Prüfungen größtenteils dieselben Prüfpersonen mitgewirkt haben, da konnte ihnen keine befriedigende Antwort gegeben werden, so daß bei ihnen der Eindruck zurückbleiben mußte, daß ein nicht unerheblicher Teil der Hahnemannschen Symptome ebenfalls fragwürdiger Natur sein müsse.
Bei meinen Literaturstudien fand ich, daß Conrad Wesselhoeft(5) circa 1887 an den Studenten der damals homöopathischen Boston University Medical School eine Arzneiprüfung durchführte, bei der er den Prüfern Placebo gab, aber verkündete, daß er Carbo vegetabilis prüfen werde. In den Protokollen fanden sich dann reichlich Carbosymptome! Man fragt sich naheliegenderweise, bei wie vielen der zwischen 1810 und heute durchgeführten Arzneiprüfungen diese Fehlerquelle mitgespielt haben dürfte?
Mein Interesse erschöpfte sich aber nicht mit der Durchsicht der Prüfungsquellen. Ich wollte vor allem wissen, was geschieht, wenn jemand ein Mittel eingenommen hat und nun Symptome erwartet. Als ich beauftragt wurde, zusammen mit F. Gisevius an Kursteilnehmern laufend Arzneiprüfungen durchzuführen, bekam ich Gelegenheit, im Verlaufe einiger Jahre an nahezu 200 Kollegen Arzneiprüfungen durchzuführen – meist mit mittleren Potenzen -, also an einer genügend großen Zahl, um verläßliche Eindrücke über die Wertigkeit derartig durchgeführter Arzneiprüfungen zu gewinnen. Auf meinen Vorschlag hin wurde bei diesen Prüfungen nicht, wie es sonst meist üblich war, gleich mit dem Prüfstoffe begonnen, sondern – für den Prüfer unwissentlich – mit Placebo. Überraschenderweise hatten nun alle Prüfer bereits während der Placeboeinnahme eine größere Zahl, z.T. auch heftiger Symptome an sich bemerkt, was einige veranlaßte, die Prüfung wegen der Heftigkeit der an sich bemerkten Erscheinungen vollkommen abzubrechen. Keiner glaubte mir, daß er noch keinen Arzneistoff, sondern nur eine arzneilose Flüssigkeit eingenommen hat. Auf Einzelheiten möchte ich hier nicht eingehen. Es traten bei allen immer
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5. Wesselhoeft, C.: A reproving of carbo vegetabilis. In: Transactions of the thirtieth Session of the American Institute of Homoeopathy. 1877, new series, pp. 184-279.
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reichlich Placebosymptome auf, während der Mitteleinnahme – in mittleren Potenzen – aber keine für das dann geprüfte Mittel charakteristischen Symptome, deren deutliches Auftreten man doch nach all dem erwarten mußte, was die homöopathische ‘Parteidoktrin’ über die Wertigkeit der Arzneiprüfungen behauptet. Da man früher fast immer ohne Placebokontrollen geprüft und dann alles, was die Prüfer von Symptomen an sich beobachteten, als Wirkungen des betreffenden Arzneistoffes angesehen und darauf das Arzneibild aufgebaut hatte, mußten auch hier erhebliche Zweifel an der Richtigkeit vieler Symptome der homöopathischen Arzneidarstellungen auftauchen. Im Jahre 1938 berichtete ich in engerem Kreise über meine Feststellungen. Zu meiner Überraschung waren meine Zuhörer vollkommen uneinsichtig, sie erklärten, daß es doch ‘menschenunmöglich’ wäre, daß nach Placebo Symptome auftreten. Süddeutsche Kollegen erklärten, niemals bei Prüfern unter Placebogaben irgendwelche Symptomatologie erlebt zu haben. Sie hatten den Prüfern Placebo gegeben und ihnen gesagt: Sie erhalten jetzt eine Scheinarznei, beobachten Sie sich nun auf Symptome. Bei dieser wissentlichen Vorbeobachtung traten nun nie Symptome auf. Dann begannen sie die Prüfung mit dem Medikament und faßten alle nunmehr auftretenden Symptome als ‘Arzneiwirkungen’ auf, auf denen dann die Arzneibilder neuerer Mittel aufgebaut wurden. Ihr Vorgehen kopierte ich bei meiner nächsten Prüfung: Einige Kollegen erhielten eine Flasche mit Placebo mit der Mitteilung, daß dies eine Scheinarznei zur Prüfung ihrer Suggestibilität wäre. Sie sollten sich nun auf Symptome beobachten. – Sie bemerkten keine. Dann bei ‘Beginn’ der Prüfung erhielten sie eine weitere Flasche mit Placebo. Während der nunmehr hinsichtlich der Art des Prüfstoffes unwissentlichen Einnahme von Placebo beobachteten sie eine ausgedehnte Symptomatologie an sich.
Später kam Gisevius auf Hochpotenzprüfungen zu sprechen. Er habe hier ‘wunderbare Dinge’ erlebt, so hätte z.B. H. Rabe bereits in den ersten Tagen nach Einnahme von Nux vomica C30 ganz fabelhaft mit typischen Nuxsymptomen reagiert. Da ich gegen Hochpotenzprüfungen unter entsprechenden Kontrollen nichts einzuwenden habe, führten wir ebenfalls eine Nux vomica-Prüfung in der C30 durch. Wir begannen mit Placebo in den Fläschchen No. l bis 3, erst im 4. Fläschchen war Nux C30. Demnach müßten erst nach Einnahme aus Fläschchen No. 4 entsprechende Nux-Symptome auftreten. Während der Einnahme aus den Placebofläschchen bekamen unsere Prüfer reichlich Symptome, die bis zu 6 Seiten
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der Protokollhefte bei einigen füllten. Unter Nux C30 traten aber bei keinem der Prüfer irgendwie für das Mittel charakteristische Symptome auf. Bei der Schlußbesprechung griff Gisevius erwartungsvoll nach den Protokollheften, und zeigte sich sehr befriedigt über das Ergebnis. Er hatte inzwischen vergessen, daß die drei ersten Fläschchen nur Placebo enthielten und nahm an, daß man – wie es sonst üblich war – gleich mit der C30 begonnen habe, und las aus den während der Placeboeinnahme beobachteten Erscheinungen eine Anzahl von für Nux passenden Symptomen heraus.
Dies war nun eine erhebliche und anscheinend bis dahin nicht weiter beachtete Fehlerquelle; denn weiß der Prüfungsleiter, welches Mittel geprüft wird, dann ist er doch allzuleicht bereit, aus der Menge der von den Prüfern vermerkten Symptome diejenigen herauszuangeln, die für das geprüfte Mittel sprechen könnten. Nun hatte zufällig gleichzeitig H. Rabe(6) bei seinen Prüfungen den Beauftragten des RGA unwissentlich dieselbe Fehlerquelle eindeutig vordemonstriert, so daß die Dinge dort bereits in Gang gekommen waren und sich nicht mehr aufhalten ließen.
Das Jahr 1939 brachte für die Homöopathie die auffallende Tatsache, daß es H. Rabe bei seinen Arzneiprüfungen nicht gelungen ist, ein positives Resultat zu erzielen. Kurz nachher wurden auch die Prüfungen Martinis(7) mit Bryonia und Sepia bekannt, der trotz Beratung durch A. Stiegele zu keinem positiven Resultat gekommen war. Ebenfalls 1939 machte F. Hoff(8,9) Arzneiprüfungen – ebenfalls unter ausführlicher Beratung durch A. Stiegele. Er berichtete hierüber in der D.M.W., 1961, Nr. 21 u.a.:
‘Die Niederschriften der Versuchspersonen enthielten eine bunte Skala von allen möglichen Symptomen und subjektiven Empfindungen, aber keine erkennbare Übereinstimmung mit den Arzneibildern, und die Placeboversuchspersonen produzierten ungefähr eine ebenso reichliche Symptomatologie wie die Personen, die die homöopathischen Medikamente einnahmen ….’
Und ist bei den Nachprüfungen, die Pirtkien am Stuttgarter Robert Bosch-Krankenhaus mit Bryonia und Belladonna unter Einschaltung von Placeboprüfern durchführte, das herausgekommen, was man eigentlich nach der homöopathischen Ideologie erwarten müßte? Woran mag es liegen. daß all diese Nachprüfungen – inclusive der von Gisevius und Donner durchgeführten – nicht die für die jeweilig geprüften Mittel sprechenden Symptome ergaben, wie man nach der
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6. Rabe, H.: Die Bedeutung der Arzneimittelprüfung für den homöopathischen Arzneischatz (Aus einem Gutachten). In: Dtsch. Ztschr. f. Hom. Jg. 1939, Bd. 55/18, S. 142 ff.
7. Martini, P.: Über die homöopathische Arzneimittelprüfung am Gesunden. In: Münchener Medizinische Wochenschrift 1939, Jg. 86, S. 721-725.
8. Hoff, F.: Deutsche medizinische Wochenschrift 1961, Jg. 86, S. 1025.
9. Hoff, F.: Behandlung innerer Krankheiten. 1958, 8. Aufl., S. 20.
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homöopathischen Lehre eigentlich erwarten sollte. Liegt es etwa an all den genannten Kollegen? Dann müßte es doch ein Leichtes sein, sie durch anderweitig durchgeführte Nachprüfungen – mit den eben nun mal erforderlichen Placebokontrollen – zu widerlegen! Oder sollte es daran liegen, daß man sich hinsichtlich der Wertigkeit von Arzneiprüfungen mit mittleren und höheren Potenzen in Illusionen verrannt hat, die sich bei kritisch durchgeführten Nachprüfungen naheliegenderweise nicht realisieren lassen. Man kann doch nur Realitäten verifizieren, aber keineswegs Wunschbilder realisieren! Wie bei den bisherigen, dürfte es auch bei den bevorstehenden Nachprüfungen nicht darauf ankommen, welche Wunschvorstellungen von der Homöopathie die dann zugezogenen Kollegen haben, sondern darauf, was sie von den Realitäten wissen und was sie dann auch tatsächlich können. Man dürfte im homöopathischen Lager um eine Bestandsaufnahme der Realitäten und einen radikalen Abbau der Illusionen nicht herumkommen können, falls man eine Wiederholung des 1936 bis 1939 aufgetretenen totalen Fiaskos vermeiden will!
II.
In Auftrage des Präsidenten des Reichsgesundheitsamtes Prof. Reiter kam 1935 der Pharmakologe Bonsmann an die Homöopathische Universitäts-Poliklinik, um sich näher zu informieren. Er hatte bereits Einführungskurse in die Homöopathie in Stuttgart und Berlin wie auch Studienaufenthalte am Stuttgarter Homöopathischen Krankenhaus und der Leipziger Homöopathischen Poliklinik absolviert und außerdem längere Zeit als Fachinternist eine eigene Praxis geführt und war so für seine Tätigkeit gut vorbereitet. Er kam regelmäßig zu meinen Sprechstunden, war sehr interessiert und machte sich fleißig Notizen. Die Sitzungen der Berliner Homöopathischen Ärzte besuchte er ebenfalls und füllte auch hier seine Kartothekkarten mit Notizen. So konnte er im Laufe der Jahre ein einwandfreies Material über die verschiedenen und sich doch so oft widersprechenden Ansichten innerhalb der Homöopathie zusammentragen. Verständlicherweise galt sein Hauptinteresse der Arzneimittellehre und dem Zustandekommen der Arzneibilder. Als ich erfuhr, daß das RGA eine Überprüfung der Homöopathie durchführen will, interessierte mich vor allem, wie man hier vorzugehen beabsichtigt. Es sollte vor allem die Zuverlässigkeit früherer Arzneiprüfungen und somit auch die Wertigkeit der auf ihnen aufgebauten ‘Arzneibilder’ erforscht
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10. [?] Rabe, H.: Begrüßungsansprache bei der Eröffnung der 100. Hauptversammlung des deutschen Zentralvereins homöopathischer Ärzte. In: Dtsch. Z. f. Hom. Jg. 1939, Bd. 55/18, S. 285.
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werden, weiterhin die Verläßlichkeit der therapeutischen Indikationen der einzelnen Mittel und somit auch der faktische Wert einer homöopathischen Therapie bei solchen Krankheitsbildern klargestellt werden, die einer Erforschung besonders zugänglich sind. Außerdem sollte auch die Ähnlichkeitsregel als solche eingehend durchforscht werden. Es war geplant, daß, falls sich in den ersten Jahren eindeutig erweisen sollte, daß an der Homöopathie tatsächlich etwas dran ist, dann sämtliche Universitätsinstitute und Kliniken sowie alle führenden Krankenanstalten herangezogen werden sollten, um die Homöopathie zu erforschen. An jeder Universität sollte eine Arbeitsgemeinschaft, bestehend aus einem Homöopathen, einem Internisten und einem Pharmakologen, aufgestellt werden, die dann Arzneiprüfungen und therapeutische Untersuchungen durchführen werden. An Prüfpersonen bestehe kein Mangel, da u.a. alle Mitglieder homöopathischer Laienverbände dazu aufgefordert werden können. Bei den jeweiligen Prüfungen dürften die homöopathischen Ärzte nur angeben, welche Art von Prüfpersonen sie hier für besonders geeignet halten. Wünschen sie etwa Frauen in den Wechseljahren für eine Sepiaprüfung, dann wird man eben Frauen in den gewünschten Altersstufen dafür gewinnen. Es wurden also der Homöopathie Möglichkeiten geboten, wie sie sie seit ihrem Bestehen noch nie gehabt hat.
Damals betrug die Zahl der medizinischen Fakultäten und Akademien in Deutschland rund 26; da man für große Universitäten nicht nur eine, sondern zwei Arbeitsgruppen plante, so kam man auf 30 Stellen für die Überprüfung der Homöopathie. Werden Arzneiprüfungen sowohl im Sommer- wie auch im Wintersemester durchgeführt, dann könnten 60 Mittel pro Jahr durchgenommen werden. Auch wenn man die ‘Großen Mittel’ zweimal oder gar dreimal nachprüfen will, dann konnte man damit rechnen, daß in etwa 6 Jahren 250 der wichtigsten homöopathischen Medikamente jeweils an einer großen Zahl von Prüfpersonen mit allen heutzutage üblichen Kautelen überprüft sein werden. Als man aber an mich die Frage richtete, welche homöopathischen Ärzte ich für geeignet halten würde, beispielsweise in Königsberg, Kiel, Göttingen usw. an den Forschungsgruppen mitzuarbeiten, da kamen mir doch erhebliche Zweifel, ob sich wirklich 30 finden werden, die den Grad von Sachkenntnis besitzen, der nun einmal erforderlich ist, wenn man die Nachprüfungen so durchführen will, daß auch ein positives Resultat erzielt wird.
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Eines Tages erwähnte Bonsmann, der sich als Toxikologe besonders für Tiergifte interessierte, daß ein Kollege in seinem Vortrage die ‘Durstlosigkeit’ von Apis besonders hervorgehoben habe und meinte, daß es doch etwas sehr Auffallendes wäre, daß bei einer Arzneiprüfung plötzlich einige der Prüfer durstlos geworden seien. Ich konnte ihm sofort antworten, daß gar nicht daran zu denken sei, daß – wie jener Kollege behauptet hatte – man bei einer mit Potenzen durchgeführten Arzneiprüfung dieses Symptom hervorrufen könne, denn in Wirklichkeit habe sich doch folgendes zugetragen: Einige Menschen bekamen nach Bienenstichen enorme Körperödeme, während deren Ausbildung sie natürlich heftigen Durst hatten. Als später die Ödeme wieder ausgeschwemmt wurden, hatten sie keinen Durst mehr.
Mein Gesprächspartner Bonsmann wußte dies alles bereits. Schließlich ist es kein Wunder, daß er über frühere Prüfungen bestens orientiert war, denn ein Fachtoxikologe, der 10 Jahre lang jeden seiner Achtstundenarbeitstage ausschließlich dem Studium der Homöopathie widmet, muß sich doch in dieser Zeit ein enormes Wissen angeeignet haben. Auf eine weitere Frage des Internisten Prof. W. Siebert nach der klinischen Bestätigung des ‘Leitsymptomes’ einer ‘Durstlosigkeit von Apis’ erwähnte ich, daß ich einmal in Cartiers ‘Thérapeutique des voies respiratoires’ fand, daß ein Dr. McLachlan in Detroit eine Pleuritis exsudativa wegen des Vorhandenseins einer Durstlosigkeit mit Apis behandelt und geheilt habe. 1925 wurde ich an diesen Fall erinnert, als ein Mitassistent eine Pleuritis hatte, zuerst mit hohem Fieber, enormem Durst und massiver Exsudatbildung. Plötzlich war er ‘durstlos’ geworden … ich hatte aber kein Apis bei mir. Ich konnte dann beobachten, daß ohne jede Behandlung in den nächsten 24 Stunden die Temperatur abfiel bei Überschießen der Diurese und Abfallen des Exsudatspiegels. Seither habe ich in solchen Fällen nur den unbehandelten Ablauf beobachtet und immer wieder – auch bei gewissen Endzuständen von Nierenamyloid u.ä. dasselbe feststellen können. Kennt jemand diese unbehandelten Ablaufsformen nicht, dann kann er – falls er Apis gegeben hat – leicht einen Erfolg herauslesen.
In den Jahren 1935 bis 1939, während denen Bonsmann und W. Siebert mehrmals wöchentlich meine Arbeit in der Poliklinik und der damaligen homöopathischen Abteilung des Rudolf Virchow-Krankenhauses beobachteten, wurden mir jedesmal viele Fragen gestellt. Nachdem z.B.
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Bonsmann einen Vortrag eines homöopathischen Kollegen über Platina gehört hatte, begann er sich mit diesem Mittel und seinen Arzneiprüfungen zu beschäftigen. Da die von ihm gefundenen Realitäten in erheblichem Gegensatz zu dem standen, was der Kollege vorgetragen hatte, wurden mir diverse Fragen gestellt. Da mir bei früheren Quellenstudien bereits einiges aufgefallen war, weswegen ich das Mittel immer als sehr zweifelhaft angesehen habe, konnte ich sofort antworten, daß das Arzneibild größtenteils auf Erscheinungen basiert, die Gross(11) an einem etwas ‘reizbaren Frauenzimmer’ beobachtete, der er das Mittel in der 1. Verreibung in Dosen, die 2 bis 3 Gran des Metalles entsprachen, verabreicht hatte. Die Frau gab später an, alles kleiner zu sehen als sonst, also Tische, Stühle usw., auch Dr. Gross kam ihr sehr klein vor. Bei meiner Suche nach der Bedeutung eines solchen Symptomes fand ich in Axenfelds Lehrbuch der Augenkrankheiten Zustände von Mikropsie als ‘Akkommodationskrämpfe bei Hysterikerinnen’ erwähnt, während psychiatrische Werke sie als Begleiterscheinungen bei bestimmten Psychosen bezeichnen. Ob es sich nun bei diesem ‘etwas reizbaren Frauenzimmer’ um eine gerade zur Zeit der Mitteleinnahme auftretende Psychose oder um eine gewisse Verschlimmerung einer latenten Psychose gehandelt hat oder um eine bei einer Gesunden durch Platina in der 1. Verreibung tatsächlich verursachte seelische Abartigkeit, das wissen wir nicht und können es auch nicht wissen, da nähere Angaben fehlen. Man darf nicht vergessen, daß damals recht naiv geprüft wurde und unter Berufung auf den § 138 des Organons von Hahnemann(12), der da lautet:
‘Alle Beschwerden, Zufälle und Veränderungen des Befindens der Versuchsperson während der Wirkungsdauer einer Arznei rühren bloß von dieser her und müssen als deren eigentümlich zugehörig, als ihre Symptome angesehen werden und aufgezeichnet werden; gesetzt auch die Person hätte ähnlich Zufälle v o r l ä n g e r e r Z e i t bei sich von selbst wahrgenommen’ (von Hahnemann gesperrt!)’
alles, was der Prüfer nach der Medikamenteneinnahme an sich beobachtete, als ausschließlich durch den betreffenden Arzneistoff verursacht ansah. Das brachte es mit sich, daß man gar nicht weiter beachtete, ob der Prüfer früher bereits dieselben Beschwerden einmal oder gar des öfteren gehabt hat.
Die Beauftragten des RGA machten mir gegenüber keinen Hehl von ihrer verständlichen Verwunderung darüber, daß man den hier auftauchenden Fragen in den letzten 100 Jahren nicht weiter nachgegangen ist und versucht
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11. Gross, W., Stapf, E.: Platina. In: Stapf’s Archiv 1822, Bd. 1, H. 1. S. 122-175.
12. Betr. Organon, S. 169, § 138, vgl. zu Seite 4.
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hat, durch Nachprüfungen sicherzustellen, ob es möglich ist, durch Einnahme von Platina in der 1. Verreibung seelische Abartigkeiten – und wenn auch nur bei bereits stigmatisierten Menschen – auszulösen. Sollte dies bei nunmehr vorgesehenen, im Rahmen der offiziellen Überprüfungen durchzuführenden Nachprüfungen tatsächlich eintreten, dann wäre alles gut, sollten die Versuche aber negativ verlaufen, dann wäre aller Grund vorhanden, die Platinsymptomatologie und den ausführlich beschriebenen ‘Platintyp’ als Phantasieprodukt einzustufen. Die Feststellung, daß möglicherweise psychische Abartigkeiten nach einigen Gaben der 1. Verreibung aufgetreten sein können, widerspricht strikte den meist sehr ‘vollmundig’ vertretenen Ansichten der ‘klassischen Homöopathie’, deren Vertreter behaupten, daß die seelischen und die Leitsymptome der Mittel mit Hochpotenzen erzielt worden seien, und führte zu einer eingehenden Erörterung dieses Fragekomplexes. Da die Beauftragten des RGA bei ausgedehnten Studien keine Arzneiprüfungsberichte ausfindig machen konnten, auf die dies eindeutig zugetroffen hätte, wurde ich beauftragt, solche Mittel und auch die Stellen ihrer Veröffentlichung zu nennen. Da ich trotz eingehenden Studiums der Prüfungsberichte ebenfalls keine gefunden hatte und mir ‘flott hypomanisch eingestellte’ Kollegen der ‘klassischen Richtung’ auf präzise gestellte Fragen immer nur die stereotype Antwort gaben: ‘Das wissen wir natürlich nicht, aber es ist eben so!’, so bin ich der Ansicht, daß es sich hier um ‘reine Wunschbilder’ handelt.
Bei den über 300 Besuchen, die die Beauftragten des RGA mir an meinen damaligen Arbeitsplätzen abstatteten, wurde über viele Mittel gesprochen. Als ich einmal in der Poliklinik das von A. Stiegele bei ‘Hustenreiz gleich nach dem Einschlafen’ besonders empfohlene Aralia versuchsweise verordnet hatte, wurde ich nach den Grundlagen gefragt, die zur Empfehlung des Mittels bei solchen Zuständen geführt haben. Ich konnte auf eigene Veröffentlichungen verweisen, nach denen die Anwendung des Mittels auf einen Dr. S.A. Jones zurückgeht, einen Asthmatiker, der eines Abends kurz nach dem Niederlegen wieder einen seiner Asthmaanfälle bekam. Zuerst nahm er an, es habe sich um einen seiner üblichen Anfälle gehandelt. Als er sich erinnerte, daß er nachmittags 3 Uhr von einer Araliatinktur 10 Tropfen eingenommen hatte, brachte er seinen Anfall mit dem Mittel in Zusammenhang, zumal er den Eindruck nachträglich hatte, daß das Asthma etwas anders verlaufen wäre als sonst.
Da weiteres nicht bekannt ist, konnte ich meinen Fragestellern nicht mehr
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sagen, so etwa, ob Jones auch bereits früher oder auch später ähnliche Anfälle gehabt hat wie in jener Nacht. Wir wissen nur, daß er damals um 24 Uhr zu Bett ging und nach dem Niederlegen den Anfall bekam. Ob er vorher irgendwelchen anfallauslösenden Situationen ausgesetzt war oder ob etwa an einem nebelig-kalten Abend das Fenster zu lange offen blieb, so daß feuchtkalte Luft im Zimmer war, all das wissen wir nicht. Irgendwelche weitere Araliaprüfungen zur Untermauerung seiner Angaben sind seither nicht gemacht worden.
Die Beauftragten des RGA fanden es auffallend, daß man sich mit diesem Einzelfall begnügt hat. Auch hier planten sie Nachprüfungen, aber nicht nur an Gesunden, sondern auch an Asthmatikern. Letzteres war für sie kein Problem, darf man doch nur einige Kuranstalten für Asthmatiker in das Forschungsprogramm mit hereinnehmen, so daß man in wenigen Wochen an Hunderten feststellen kann, ob sich bei ihnen nach 10 Tropfen Araliatinktur Asthmaanfälle auslösen lassen und ob deren Verlaufsformen dem homöopathischen Arzneibilde entsprechen.
Bei den sogenannten ‘kleinen Mitteln’ läßt sich ein Überblick über die Prüfungen leicht gewinnen wie auch über die Meinungen, die man sich darüber bilden kann. Viele Kollegen vertreten die Ansicht: Jones nahm Aralia und bekam 9 Stunden später einen Asthmaanfall, also liegt hier eine einwandfreie Mittelwirkung vor und an der auf seinen Symptomen aufgebauten Arzneidarstellung ist nicht zu zweifeln. Andere nehmen wohl den Asthmaanfall zur Kenntnis, sind aber der Meinung, daß post hoc nicht identisch ist mit propter hoc und halten das Araliabild für fraglich, solange nicht durch weitere Prüfungen sich entsprechende Symptomenbilder einwandfrei eingestellt haben.
Die Frage nach dem, was von all dem, was seit Hahnemann behauptet wurde, auch tatsächlich richtig ist und sich bei Nachprüfungen bestätigen wird, ist in den Kreisen der homöopathischen Ärzteschaft bisher keineswegs ausreichend bearbeitet worden. Ein vielbeschäftigter Praktiker hat verständlicherweise dazu weder Zeit noch die erforderlichen Möglichkeiten und größere Forschungsinstitute fehlen bisher. So gingen auch bei Anfragen der Beauftragten des RGA die Ansichten der homöopathischen Kollegen weit auseinander über die Wege, auf denen man bei Nachprüfungen zu den bestmöglichen Resultaten kommen kann, so daß sie schnell herausbekamen, daß die ihnen von manchen der damals führenden Persönlichkeiten hierzu
Literatur zu Seite 13
13. Hale, E.-M.: Materia medica and special therapeutics of the new remedies. 1880, Vol. II, S. 41ff.
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gemachten Vorschläge keineswegs auf den nun einmal vorliegenden Realitäten beruhten, sondern auf Wunschvorstellungen, die sich die betreffenden Kollegen über frühere Arzneiprüfungen gebildet hatten. Man wird sich am besten hier an die gegebenen Realitäten halten müssen. Hahnemann begann mit den 1805 veröffentlichten ‘Fragmenta de viribus medicamentorum positivis sive in sano corpore humano observatis'(14) die Symptome von 27 Arzneien enthalten. Die meisten stammen aus Berichten anderer Autoren über Vergiftungen und Überdosierungen. Die von ihm selbst gebrachten Symptome [beruhen] auf eigenen Beobachtungen von Vergiftungen und Überdosierungen und auf Prüfungen, die er an sich selbst und einigen anderen, zu denen hauptsächlich seine engere Familie gehörte, durchgeführt hat. Seinem Essay ‘Die Medizin der Erfahrung’ können wir entnehmen, daß die in den ‘Fragmenta’ bekanntgegebenen Symptome mit einzelnen und großen Dosen der Prüfungsarzneien erhalten wurden. In den seit 1811 erschienenen Bänden seiner ‘Reinen Arzneimittellehre’ beruhen die Symptomatologien zu einem erheblichen Teile ebenfalls auf Zitaten von Berichten über Vergiftungen und Nebenwirkungen von Arzneien. Wir müssen als wahrscheinlich annehmen, daß er die im ersten Bande erwähnten Medikamente in Tinkturen oder der ersten Verreibung prüfte und die einzelnen Gaben wiederholt und so lange einnehmen ließ, bis sich Symptome zeigten. Später ging er bei seinen Arzneiprüfungen bekanntlich dazu über, die Mittel auch in mittleren und höheren Potenzen zu verabreichen. Die Arzneidarstellungen in den weiteren Bänden seiner Arzneimittellehre beruhen also auf vier Grundpfeilern: Berichte über Vergiftungserscheinungen, Mitteilungen von Arzneinebenwirkungen, ursprüngliche Prüfung mit nahezu toxischen Dosen und spätere Prüfungen mit potenzierten Arzneien. Als Grundlage der homöopathischen Arzneidarstellungen besitzen die Berichte über Vergiftungen und Nebenwirkungen einen hohen Grad von Realität, besonders wenn die hierbei beobachteten Erscheinungen sich im Laufe der Jahrhunderte immer mit derselben Symptomatologie abgespielt haben. Daß bei der Verarbeitung des hier vorliegenden Materials Hahnemann zuweilen Wege ging, die heute niemand mehr gutheißen kann, darf ich wohl als bekannt voraussetzen, zumal ich 1929 hierüber berichtet habe. Auch die Prüfungen mit tiefen und nahezu toxischen Dosen haben sicher einen nicht unerheblichen Realitätswert, es sei hier nur an die Prüfung mit Aloe und Colocynthis in Tinkturen erinnert.
Soweit waren die Beauftragten des RGA mit meiner Stellungnahme einverstanden.
Literatur zu Seite 14
14. Hahnemann, S.: Heilkunde der Erfahrung. In: Hufeland’s Journal 1805, Bd. 22, St. 3, S. 45-47, in der Ausgabe von Rabe, H.: S. 38ff.
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Man meinte, daß eine auf den Tatsachen der Toxikologie und sichergestellter Arzneinebenwirkungen aufgebaute homöopathische Arzneimittellehre nicht überprüft zu werden brauche. Auch die mit nahezu toxischen Dosen durchgeführten Arzneiprüfungen haben nach ihren Ansichten einen größeren Wahrscheinlichkeitswert, nur müßten eben durch Nachprüfungen mit Placebokontrollen alle ‘Placebosymptome’ sorgfältig eliminiert werden.
Eigene Versuche, eine homöopathische Arzneimittellehre auf der Toxikologie und den Arzneinebenwirkungen aufzubauen, haben bei zahlreichen Mitteln Arzneibilder erbracht, die erheblich den bisherigen ähneln. Sie waren natürlich viel kürzer und prägnanter, da die oft auf sehr fragwürdige Weise zustandegekommenen ‘feineren Symptome’ fehlten, also jene, die eigenartigerweise von manchen Homöopathen für besonders wertvoll erachtet werden, die sie bei ihrer Arzneimittelwahl sorgfältig mittels mühsamer Repertoriumsanalyse mit anderen, genau so fragwürdigen vergleichen und auf dieser Basis sich dann für das eine oder andere Mittel entscheiden.
Im Laufe seines langen Lebens ging Hahnemann dazu über, den Arzneiprüfstoff in potenzierter Form, zuerst in tieferen, dann auch in höheren Verdünnungen und in Hochpotenzen zu verabreichen. Da die Prüfer hierbei ebenfalls Symptome an sich beobachteten, glaubte er, daß all diese Symptome durch den Prüfstoff verursacht worden wären. Die Ergebnisse der in den letzten 30 Jahren mit Placebokontrollen durchgeführten Arzneiprüfungen lassen es höchstwahrscheinlich erscheinen, daß die nach höherpotenzierten Arzneien aufgetretenen Erscheinungen zu einem keineswegs unerheblichen Teile als Placebosymptome anzusehen sind. Nach einer 1939 von H. Rabe geäußerten Ansicht sind sogar alle auf diese Weise von Hahnemann und seinen Nachfolgern bei Hochpotenzprüfungen erhobenen Symptome möglicherweise nichts weiter als reine Placebosymptome(16).
Meine seinerzeit mit Placebokontrollen durchgeführten Arzneiprüfungen an circa 200 Ärzten fanden bei den mitbeobachtenden Beauftragten des RGA großes Interesse. Von den hierbei aufgetretenen Kuriosa sei nur ein Fall erwähnt:
Eine Berliner homöopathische Ärztin bekam bereits nach dreitägiger Placeboeinnahme so heftige Migräneanfälle, daß sie die Prüfung abbrechen mußte. Der ‘Arzneistoff’ hatte sie so sehr mitgenommen, daß sie ihre Sprechstundentätigkeit ein halbes Jahr lang nicht
Literatur zu (etwa) Seite 15
15. [?] Donner, F.: Über die Quellen der homöopathischen Arzneimittellehre. Allg. hom. Ztg. 1929, Bd. 177, S. 369ff.
16. Rabe, H.: Die Bedeutung der Arzneimittelprüfung für den homöopathischen Arzneischatz (Aus einem Gutachten). In: Dtsch. Ztschr. f. Hom. Jg. 1939, Ed. 55/18, S. 142ff.
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mehr ganztägig ausüben konnte und sich für die Nachmittagssprechstunden einen Vertreter nehmen mußte. Migräneanfälle hatte sie weder vorher noch später jemals gehabt.
Während ich diesen Ereignissen keine wesentliche Bedeutung beizumessen geneigt war, da nach meinen Erfahrungen durch die gespannte Erwartungssituation bedingt bei Prüfungen häufig psychogene Reaktionen auftreten, die sich in Bauchspasmen, explosiven Diarrhöen, Übelkeit, Pollakisurie, Schwindelgefühlen, Kopfschmerzen, Frösteln, Hitzegefühlen, eigenartigen Sensationen in verschiedenen Körperteilen usw. bereits während der Placeboeinnahme äußern können, hatten die mitbeobachtenden Herren vom RGA erheblich weitergedacht. So wurde ich mit der doch naheliegenden Frage überrascht, was wohl geschehen wäre, wenn ein anderer ohne unwissentliche Placebogaben gleich mit dem Mittel, und zwar in Hochpotenzen, begonnen und ein anderes, noch nie geprüftes Mittel zur Prüfung herangezogen hätte? Naheliegenderweise dürfte die Kollegin nach drei Tagen auch mit Migräneanfällen reagiert, die Prüfung abgebrochen und ein halbes Jahr lang einen Praxisvertreter eingestellt haben. Wie wären dann wohl ihre Symptome verwertet worden? In Parallele zu Auswertungen anderer Prüfungen müßte man doch annehmen, daß diese ‘Symptome’ als Arzneiwirkungen aufgefaßt, dem Mittel eine ’tiefgreifende Wirkung auf das Nervensystem’ zugesprochen und in kommenden Arzneimittellehren die Darstellung dieses neuen Mittels mit den Symptomen der Kollegin verziert worden wäre. Zum ‘guten Schluß’ kam noch die Frage, ob wohl die Anhänger der ‘Hochpotenzhomöopathie’ das Auftreten von Migräneanfällen am dritten Tage nach Mitteleinnahme als eindeutigen Beweis für die Wirksamkeit der Hochpotenzen aufgefaßt hätten? Derartige ‘neuralgische Punkte’ wurden des öfteren berührt, sie drängen sich auch jedem auf, der sich eingehend und kritisch mit dieser Therapieform beschäftigt. Auf weitere während meiner Arzneiprüfungen aufgetretene und mitbeobachtete Kuriosa möchte ich heute nicht eingeben. Für die praktischen Durchführungen ihrer Nachprüfungen gingen die Beauftragten des RGA von der Voraussetzung aus, daß, wenn das, was homöopathischerseits über Arzneiprüfungen behauptet wird, auch nur zu einem Teile richtig ist, dann ein Unterschied herauskommen muß zwischen Placeboprüfungen und solchen mit mittleren und hohen Potenzen des Mittels. Dieser Unterschied muß dann so deutlich ausfallen, daß man ihn auch erkennen kann, denn sonst hätte eine Arzneiprüfung in Potenzen doch gar keinen Wert. Auch derjenige, der nicht weiß, welches Mittel geprüft wurde, müßte diesen Unterschied wie auch die Art des Prüfstoffes erkennen
Literatur zu (etwa) Seite 16
17. Donner, F.: Kritische Betrachtungen über Arzneimittelprüfungen. In: Allg. hom. Ztg. 1927, Bd. 175, S. 151ff.
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können. Man war nun der Meinung, daß bei einer Belladonnaprüfung, bei der etwa 50 Prüfer nur Placebos einnehmen, 50 andere Belladonna in mittleren und 50 weitere in Hochpotenzen, dann doch unter Placebos nur allgemeine und keineswegs deutlich für Belladonna sprechende Symptome, unter den Tiefenpotenzen ‘organische Belladonnasymptome’ und unter den Hochpotenzen dann die seelischen und geistigen auftreten müßten, und zwar so deutlich, daß jeder, dem man die Protokolle vorlegt, sie dann als Protokolle einer Belladonnaprüfung erkennen kann und auch anzugeben vermag, welche Protokolle von den Hochpotenzprüfern stammen, welche von denen, die mittlere und tiefe Potenzen eingenommen haben und welche Protokolle von den Placeboprüfern stammen. Man habe aber keineswegs die Absicht, den Homöopathen, die in Göttingen, Tübingen usw. die Prüfungen durchführen werden, irgendwelche Vorschriften zu machen. Man werde die Vorschläge der Kollegen zu Protokoll nehmen, so prüfen, wie sie es vorgeschlagen haben, und dann die Prüfungsergebnisse mit ihren Erwartungen vergleichen. Was dann bei den jeweiligen Prüfungen herausgekommen ist, kann jeder in den Veröffentlichungen nachlesen, die das RGA über die Ergebnisse der Überprüfung der Homöopathie herausgegeben wird. Bei dem großen Interesse, das die Homöopathie bei der Bevölkerung genießt, ist durchaus anzunehmen, daß Zeitschriften und Tageszeitungen diese Ergebnisse breiteren Volkskreisen zugänglich machen und diesen wissenschaftlichen Publikationen entnommene und populärmedizinisch zurechtgemachte Auszüge laufend in ihren Zeitungsspalten bringen werden.
III.
Ist es verhältnismäßig einfach, durch Quellenstudien und Wiederholungen von Arzneiprüfungen sich ein Urteil zu bilden, ob diese oder jene Arzneidarstellung auf realen Grundlagen aufgebaut ist oder nicht, so liegen die Dinge für eine Überprüfung der Therapie wesentlich komplizierter. Wissen wir doch, daß bereits im Krankenhaus, in das doch meist Patienten mit ausgesprochenen und diagnostisch einwandfrei nachweisbaren Zustandsbildern eingewiesen werden, der Nachweis einer Wirksamkeit dieser oder jener Therapie oft nur schwer zu führen ist. Um wieviel schwieriger ist es dann in der freien Praxis, in der doch ein ganz anders zusammengesetztes Krankheitsgut verarztet wird, sich ein sicheres Urteil über den Wert
Literatur zu (etwa) Seite 17
18. Donner, F.: Über die Ankurbelung der homöopathischen Forschung. In: Dtsch. Ztschr. f. Hom. 1932, Jg. 11, S. 180ff.
dieses oder jenes Mittels zu bilden. Denn hier spielt die Persönlichkeit des Arztes, der Ruf, den er bei seinen Kranken hat, seine oft den Wünschen des Patienten entgegenkommende Art der Verordnungen und anderes mehr eine wesentliche Rolle mit, lauter Dinge, die in der Anonymität eines Krankenhauses mit mehreren auf derselben Station den Kranken betreuenden Ärzten und der Verabreichung von Medikamenten, über deren Art der Kranke oft nichts Näheres erfährt, kaum ins Gewicht fallen.
Bei ihren Besuchen in Poliklinik und Krankenhaus konnten die Beauftragten des RGA mancherlei beobachten, was sie früher nie so deutlich bemerkt hatten, so u.a. wie sehr die Einstellung des Kranken zu der eingesetzten Therapie sein Verhalten beeinflussen kann. Hierzu ein Beispiel:
An einem Freitage wurde mir ein Neuzugang mit einem röntgenologisch sichergestellten Magengeschwür vorgestellt. Da er als Anhänger der Biochemie mit den Mitteln des Dr. Schüssler behandelt zu werden wünschte, wurde ihm das sowohl in der Homöopathie wie auch der Biochemie gegen Säurebeschwerden bei Ulkus empfohlene Natrium phosphoricum verordnet. Am Sonnabend erfuhr ich, daß es Ärger gegeben habe, da das der Stationsapotheke entnommene Fläschchen das Mittel in Tropfen enthalten habe; der Kranke queruliere deswegen, da Schüssler seine Medikamente in Tablettenform empfehle. Glücklicherweise war das Mittel in der Hausapotheke des Krankenhauses in Tablettenform vorrätig und konnte von dort noch am Sonnabend geholt werden. Da es aber das Mittel in Tabletten zu 0,1 gr. enthielt, lehnte der Kranke sie als falsche Behandlung ab, da die Schüsslermittel in Tabletten zu 0,25 gr. dispensiert werden. Mein Assistent W. Richter bemühte sich, das Mittel außerhalb des Krankenhauses in Tabletten zu 0,25 gr. zu bekommen und kam mit einer Originalpackung der Firma Dr. Willmar Schwabe – Leipzig zurück. Die größenmäßig richtige Tablette wollte der Patient erst einnehmen, wenn man ihm auch die Packung gezeigt habe. Da auf ihr ‘Homöopathie Schwabe’ stand und sie mit einem Bilde von Hahnemann geschmückt war, lehnte er auch diese Tablette als falsches Medikament ab. Am nächsten Tage besorgte W. Richter in der Innenstadt das Mittel in biochemischer Verpackung. Der Kranke nahm dann aus der mit dem Aufdrucke ‘Biochemie Schwabe’ und dem Bilde von Dr. Schüssler verzierten Packung eine Tablette … und war am anderen Morgen beschwerdefrei. Natürlich! War er doch fanatisch von seiner biochemischen Heilmethode und deren absoluten Überlegenheit über alle anderen Behandlungsarten – inklusive der Homöopathie – vollkommen überzeugt und erwartete, daß nach Einnahme der ‘richtigen’ Tablette alles ‘sofort gut’ wird. Bei einer Röntgenkontrolle war aber sein Geschwür noch in derselben Größe vorhanden wie auf einer 2 Wochen vorher ambulant angefertigten Aufnahme.
Derartige Fälle machten nun immer einen tiefen Eindruck auf die mitbeobachtenden Professoren. Er war keineswegs ein Einzelfall, denn unter den die beiden homöopathischen Einrichtungen besuchenden Kranken waren nicht nur Anhänger der Homöopathie, sondern auch der Biochemie, der
sogenannten Elektrohomöopathie des Grafen C. Mattei(19), der Elektrospagyrik des Dr. Zimpel(20), der Heilmethode des Pastors Felke u.a.m. Es war nicht immer leicht, mit ihnen zurechtzukommen, zumal wenn sie ganz monomanisch davon überzeugt waren, daß Schüssler(21), Mattei, und andere mehr eben viel klüger als Hahnemann waren und deshalb Behandlungsverfahren ersonnen haben, die die Möglichkeiten der Homöopathie weit hinter sich lassen …! Die Psychologie der Außenseiter ist eben eine Sache für sich. Als wir damaligen Assistenten des Stuttgarter Krankenhauses uns 1927 empört über gewisse Dinge innerhalb der Homöopathie äußerten, gab uns H. Meng, damals leitender Arzt der 2. Abteilung, später Professor für Psychologie an der Universität Basel, den klugen Rat, wir sollten uns eingehend mit der Psychopathologie der Außenseiter beschäftigen, dann würde uns vieles verständlich werden.
Der Auftrag des RGA ging dahin, die Homöopathie auf ihren tatsächlichen Wert zu überprüfen. Dieser Auftrag wurde so aufgefaßt, daß die Homöopathie daraufhin zu überprüfen ist, inwieweit ihre Medikamente tatsächlich – und zwar als Pharmaka – wirksam sind. Dies verlangte, daß man tunlichst alle hier möglichen Fehlerquellen radikal auszuschließen sich bemüht, also auch alle iatrogenen Beeinflussungen. Prof. W. Siebert hatte einige homöopathische Ärzte in ihrer Sprechstunde beobachtet, wobei ihm besonders auffiel, in welch direkt manirierter Art manche ihren Kranken die Verabreichung von Einzelgaben – besonders von Hochpotenzen – zelebrierten. Er war der Meinung, daß dies einen erheblichen Eindruck auf die Kranken machen müsse, besonders wenn dabei, wie erlebt, noch ausdrücklich versichert würde, daß diese wenigen Streukügelchen so überaus kräftig waren, daß sie vollkommen ausreichen, ihn zu heilen. – Nun, daß Kollegen auf dem wunderbaren Klavier der larvierten Psychotherapie ganz meisterhaft zu spielen vermögen, ist kein Geheimnis und auch keineswegs auf die Anhänger der Homöopathie beschränkt. Andererseits weiß aber auch jeder, daß Ärzte, die außergewöhnliche diagnostische und therapeutische Verfahren anwenden, nicht nur einen ‘Seltenheitswert’ haben, der ihnen an sich schon einen gewissen Ruf verleiht, und daß sie meist von solchen Kranken aufgesucht werden, die von diesen außergewöhnlichen Methoden auch außergewöhnliche Wirkungen gläubig erwarten. Alle derartigen Einflüsse sollten bei den vorgesehenen Forschungen tunlichst ausgeschlossen werden.
Literatur zu Seite 19
19. Mattei, C.: Electro-homöopathische Heil-Methode des Grafen Cesare Mattei. 1879, B.-Nr.: 403.
20. Zimpel, Ch. E.: Allerneuestes Heilsystem als Fortsetzung seiner ‘Vegetabilischen Elektricität’ für Heilzwecke. 1874, 4. Auflage. B.-Nr.: 412.
21. Schüssler: Eine abgekürzte Therapie. 1898, 25. Aufl. B.-Nr.: 2512.
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Hier bot sich Gelegenheit, auf zahlreiche Placeboversuche hinzuweisen, die homöopathische Ärzte bereits anfangs dieses Jahrhunderts zur Sicherstellung homöopathischer Arzneiwirkungen anstellten22,23. Die Arbeiten von Wesselhoeft (1912, 1914) und Chadwell (1914) dürften allgemein bekannt sein, zumal sie mehrfach im deutschen homöopathischen Schrifttume erwähnt worden sind. Von den Placeboversuchen von E. Scheidegger sen., A. Stiegele und eigenen seien hier erwähnt:
Als A. Stiegele 1921 die Leitung des Stuttgarter homöopathischen Krankenhauses übernahm, bemühte er sich – sowohl aus didaktischen Gründen wie auch, um selbst Klarheit über die Mittelwirkung zu bekommen – jeweils nur eine Arznei zu verordnen. Um die von ihm gewünschte ‘klare Linie der Beurteilung der Arzneiwirkung’ nicht durch anderweitig eingesetzte Arzneien zu verwischen, wurden bei interkurrent auftretenden und nicht bedrohlich scheinenden Beschwerden der Krankenhauspatienten vorerst Placebotabletten eingesetzt, so vor allem dann, wenn Kranke abends ein Schlafmittel haben wollten. Viele schliefen bereits nach einer Tablette, bei anderen mußte die Scheinarznei – meist in anderer Form verabreicht, also als Tropfen oder Streukügelchen – von der Nachtschwester nochmals verabfolgt werden.
Im Jahre 1930 fiel mir bei einer Visite die große Zahl der Kranken auf, die nach Placebo prompt geschlafen hatten. Ich kontrollierte eingehend und kam zu der überraschenden Feststellung, daß in einer Nacht 30% der Kranken nach Placeboeinnahme geschlafen hatten, in einer anderen waren es einige Prozent weniger, in einer weiteren einige mehr. War ich damals geneigt, diesen hohen Prozentsatz an PIacebowirkungen Placebowirkungen auf eine hohe Suggestibilität der überzeugten Homöopathieanhänger zu beziehen, aus deren Kreise damals die überwiegende Mehrheit der Patienten rekrutierte, so muß ich heute diese meine damalige Meinung revidieren, denn 30 Jahre später haben Amerikaner bei Placeboversuchen ähnliche Prozentzahlen erheben können. Daß bei Schlafstörungen schwer psychisch Kranker bei Placeboversuchen ganz andere Werte zu erwarten sind, sei am Rande noch erwähnt.
Da A. Stiegele bei seiner Arzneimittelwahl weniger die so oft täglich wechselnde subjektive Symptomatik berücksichtigte, sondern vor allem den objektiv vorliegenden organischen Befund, den einwandfrei diagnostisch zu erheben immer eine gewisse Zeit dauert, bekamen die nicht lebensbedrohlich Kranken während der Zeit der laufenden Untersuchungen ebenfalls ein Placebo so lange, bis die Diagnose endgültig feststand. Daß manche während dieser Zeit bereits unter Placebo beschwerdefrei wurden, wird niemanden überraschen. Auffallend war, daß eine keineswegs geringfügige Zahl der Kranken während der Placeboeinnahme erhebliche Arzneiverschlimmerungen und ähnliches an sich beobachteten; manche gaben sehr präzise an, wie nach jeder der ‘Arzneieinnahme’ in den erkrankten Körperbezirken sich ein deutliches ‘Arbeiten’, ein ‘Wühlen’, ‘Zucken’, ‘Klopfen’, ‘Warmwerden’ u.a.m. einstelle, das einige
Literatur zu Seite 20
22. Scheidegger, E.: Beitrag zu einer Prüfung der Ameisensäure. In: Allg. hom. Ztg. 1923, Bd. 171, S. 33ff.
23. Wesselhoeft, C.: Was fordert die moderne Wissenschaft von unseren Arzneiprüfungen? In: Allg. hom. Ztg. 1929, Bd. 177, S. 221ff.
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Zeit anhalte und nach dessen Abflauen dann jedesmal eine deutliche Besserung eintrete. Daß nach der tatsächlichen Verordnung eines Medikamentes andere Kranke gleichartige Erscheinungen an sich beobachteten, ist nicht überraschend. Sie als eindeutige Arzneiwirkungen aufzufassen, wie dies viele Kollegen tun, dürfte sicher nicht richtig sein.
Versuche eines 1929 an das Krankenhaus gekommenen Chefarztes, den Assistenten die Wirkungen von Hochpotenzen ad oculos zu demonstrieren, wurden derart kläglich durchgeführt, daß man ihm immer wieder nachweisen konnte, daß seine Erfolge auf Fehlbeobachtungen beruhten. So behauptete er u.a., daß bei Tuberkulösen nach Tuberculinum C30 deutliche Verschlimmerungen mit Temperatursteigerungen mit Sicherheit auftreten werden.
Eines Tages gab er einer Patientin mit einer zu Lebzeiten diagnostisch nicht einwandfrei zu klärenden kachektisierenden Erkrankung einige Körnchen Tuberculinum C30 auf die Zunge und sagte voraus, daß sie am nächsten Tage eine Temperatursteigerung bekommen würde, falls sie an einer tuberkulösen Organerkrankung leide. Die bisher zweimal täglich gemessene Temperatur sollte an den beiden folgenden Tagen alle 3 Stunden gemessen werden … und am nächsten Tage waren die Abendtemperaturen deutlich erhöht! Das Eintreffen dieser vorausgesagten Temperaturerhöhung wurde nun von ihm als eindeutige Wirkung einer C30 angesehen. Hierzu bemerkte ich, daß mögliche Fehlerquellen nicht sorgfältig genug eliminiert worden sind, daß bei der üblichen zweimal täglich durchgeführten Temperaturmessung das Thermometer morgens gegen 6 Uhr und nachmittags gegen 4 Uhr abgelesen wird, während bei der dreistündlich zu messenden Kranken dies zu ganz anderen Zeiten erfolgt, wodurch andere Phasen des Temperaturverlaufes registriert werden. Ich konnte hier auf ausgedehnte Erfahrungen hinweisen, die ich während des ersten Weltkrieges sammeln konnte, als ich in einem Beobachtungslazarett bei unter probaterischen Alttuberkulininjektionen stehenden Kranken für eine exakte Temperaturmessung verantwortlich war. Ich wurde zwar wegen meiner Einwände von ihm ausgelacht, konnte aber als damaliger Oberarzt des Hauses doch erreichen, daß bei der Patientin, die bei wieder durchgeführter zweimaliger Messung normale Temperaturen hatte, erneut alle 3 Stunden gemessen wurde, wobei herauskam, daß sie normalerweise ihren Temperaturgipfel zu jener Zeit hatte, zu der sie bei dreistündiger Messung nachmittags zwischen 5 und 6 Uhr das Thermometer bekam.
Leider hat der betreffende Kollege während der folgenden 22 Monate, die ich noch an jenem Krankenhaus tätig war, keine weiteren Versuche mit Tuberculinum C30 mehr durchgeführt, dafür aber des öfteren im Schrifttume über die von ihm für absolut einwandfrei erachteten Wirkungen der C30 dieses Mittels berichtet. So wird es niemand überraschen, daß die Beauftragten des RGA, die diese Arbeiten gelesen hatten, eine Überprüfung planten, zumal sie sehr leicht durchzuführen ist und absolut einwandfreie Ergebnisse erbringen wird. Um nachzuweisen, ob die
Literatur zu (etwa) Seite 21
24. Fotokopie der ‘Vereinsnachrichten’ aus: Dtsch. Ztschr. f. Hom. 1929, S. 82.
25. Leeser, O.: Über Tuberkulinbehandlung. In: Dtsch. Ztschr. f. Hom. 1922, S. 553ff.
26. Leeser, O.: Die Psoratheorie Hahnemanns und die moderne Konstitutionslehre. In: Hippokrates 1928/29, I. Jg. S. 157.
27. Donner, F.: Zur Lösung der Hochpotenzfrage, In: Allg. hom. Ztg. 1935, Bd.183, S. 87ff. und S. 91.
28. Aebly, J.: Betrachtungen über O. Leesers Grundlagen der Heilkunst. Allg. hom. Ztg. 1927, Bd. 175, S. 244ff.
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behaupteten Reaktionen nach Einnahme einiger Körnchen von Tuberculinum C30 Tatsachen sind oder auf Täuschungen beruhen, benötigt man nach den Planungen des in Tuberkulosefragen besonders erfahrenen Prof. W. Siebert:
1. Eine größere Zahl von TB-Kranken. Am Berliner Stadtrande sind über 3000 Betten in Heilstätten. Eine Anordnung des RGA wird diese Patienten zur Verfügung stellen.
2. Mehrere, die Temperatur fortlaufend registrierende und sicher messende elektrische Geräte, bei deren Anwendung auch kurzdauernde Temperatursteigerungen nicht verloren gehen. Man darf nur Kliniken auffordern, gerade nicht gebrauchte Geräte auf einige Monate zur Verfügung zu stellen. Bekommt man 20 derartige Geräte zusammen, dann kann man wöchentlich an 20 Patienten, also in einem Vierteljahr an ca. 250, diese Versuche durchführen. Während des Versuches bekommen alle Kranken täglich Placebokörnchen, die Hälfte, also 125 an vorher bestimmten Tagen unauffällig einige Körnchen des Mittels der C30.
Außerdem sollte bei jedem im Versuche befindlichen Kranken zweimal täglich eine Differenzierung des weißen Blutbildes durchgeführt werden, um festzustellen, ob die evtl. zu erwartenden Reaktionen auch die Zahl der Stabkernigen oder der Lymphozyten verändern.
3. Sollten selbstverständlich alle im Versuche befindlichen Kranken, also jede Woche etwa 20, von den Heilstättenärzten und einem hier zu beauftragten homöopathischen Ärzte genauestens auf etwaige sonstige Reaktionen beobachtet werden.
Aus den Temperaturkurven, den Blutbefunden und den bei den einzelnen Patienten aufgetretenen oder nicht aufgetretenen und ärztlicherseits registrierten Erscheinungen muß dann doch einwandfrei erkannt werden, welche der Geprüften nur Placebos eingenommen und welche die Tuberkulinserie bekommen haben. Auf jeden Fall müßte zwischen beiden Gruppen ein Unterschied nachgewiesen werden können, wenn die Behauptungen vieler homöopathischer Ärzte hier zu Recht bestehen. Der Kriegsausbruch hat diese wichtigen Untersuchungen verhindert.
In den Jahren der Zusammenarbeit der Beauftragten des RGA mit meinen Arbeitsplätzen ergab sich leider, daß sie bei ihren Besuchen manche für die Homöopathie unerfreuliche Dinge vor Augen bekamen. So ergab sich bei einer Visite auf der Männerabteilung der Homöopathischen Abteilung des Rudolf Virchow-Krankenhauses zufällig, daß 10 Prozent dieser Kranken eine perniziöse Anämie hatten. Bei allen war die Diagnose früher anderweitig
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festgestellt worden und die darauf eingeleitete Lebertherapie erfolgreich gewesen. Mit der Zeit waren aber diese Kranken einer weiteren Nachbehandlung mit Injektionen überdrüssig geworden und hatten gewisse homöopathische Ärzte aufgesucht mit dem Ergebnis, daß sie trotz nicht unterbrochener homöopathischer Behandlung mit ihrem Blutstatus weiter und weiter abfielen und zuletzt in z.T. lebensbedrohlichem Zustande eingewiesen wurden … Die Folge war, daß die Herren vom RGA sich mit dem Problem einer Wirksamkeit der Homöopathie bei hämatologischen Erkrankungen eingehend befaßten und mir sehr, sehr ernste Fragen stellten. Komplizierend kam hinzu, daß bei den Sitzungen des Berliner Vereins homöopathischer Ärzte wie auch bei den von ihm abgehaltenen Kursen immer wieder Kollegen vollmundig behaupteten, daß die Homöopathie – im Gegensatze zur Schulmedizin – die Perniziosa heilen könne. Prof. A. von Domarus trat wenig später an mich heran mit der Aufforderung, auf einer extra zu diesem Zwecke einzurichtenden etwa 50 Betten umfassenden Perniziosaabteilung mit ihm zusammen diese Kranken homöopathisch zu behandeln. Als ich mit dem Hinweise, daß sich nach meinen Erfahrungen hier mit homöopathischen Mitteln nichts wesentliches erreichen lasse, dankend ablehnte, war er sehr erstaunt, eine dem, was er bisher von homöopathischen Ärzten gehört habe, so widersprechende Meinung zu hören. Auf peinliche Fragen konnte ich wohl daraufhinweisen, daß man früher bei allgemein roborierender klinischer Behandlung zuweilen vorübergehende Remissionen beobachten konnte. Möglicherweise hätten mit der Materie nicht genügend vertraute Kollegen solche Remissionen erlebt und für eine Heilung gehalten. Außerdem würden Fehldiagnosen immer vorkommen, gelegentlich auch in Krankenhäusern. Nur dem Kriegsausbruch hat es die Homöopathie zu verdanken, daß Domarus keinen der ‘Perniziosaheiler’ zu Versuchen heranziehen konnte und daß wir in den Veröffentlichungen des RGA noch nicht nachlesen können, wie diese Behandlungsversuche ausgegangen sind.
Bei der Anamneseaufnahme in der Poliklinik ergab sich zuweilen, daß eine frühere Go konzediert wurde. Als aber ein Kranker sich lobend über den Erfolg einer vor kurzem durchgemachten Go-Behandlung äußerte und ein Fläschchen mit Thuja C30 aus seiner Westentasche zog mit der Angabe, daß er pünktlich – wie ärztlicherseits verordnet – einmal in der Woche einige Streukügelchen davon einnehme, da wurde man doch ‘hellhörig’ und kontrollierte die behauptete Heilung mit einem
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Harnröhrenabstrich, in dem Leukos und Gonokokken nachgewiesen wurden. Von da an kontrollierten wir derartige angebliche homöopathisch geheilte Patienten; nicht selten mit demselben Ergebnis. Dies machte nun auf die Beauftragten des RGA einen tiefen Eindruck, zumal in jener Zeit ein bei uns kurze Zeit famulierender Arzt aus Mecklenburg die Go-Behandlung lautstark als ein ‘Glanzstück der Homöopathie’ bezeichnete, ‘die doch alle Fälle heilen würde’. Er berief sich auf eine 1927 in der ‘Deutschen Zeitschrift für Homöopathie’ erschienene Arbeit eines bekannten Berliner Kollegen(29) und war unseren Einwänden gegenüber absolut unbelehrbar. Es wird wohl niemanden wundernehmen, daß auch eine Überprüfung der Wirksamkeit einer homöopathischen Go-Behandlung an der Hautklinik der Charité eingeplant wurde. Der Kriegsausbruch vereitelte auch dies.
Im Verlauf der vier Jahre, während derer die Beauftragten des RGA meine Arbeitsstätten besuchten und mit mir Fragen um die Homöopathie erörterten, sind mir natürlich nicht nur die drei eben skizzierten Vorschläge zu Ohren gekommen, . Es war für mich eine sehr niederdrückende Sache, immer wieder unhaltbare Äußerungen von Kollegen entschuldigen zu müssen und zu erklären suchen, wieso dies und das überhaupt möglich wurde.
Kurz vor Beginn der offiziellen Überprüfung auf der II. Inneren Klinik des Robert Koch-Krankenhauses bat mich W. Siebert, ich möchte einige Visiten auf seinen Stationen mitmachen, um gegebenenfalls einige Ratschläge zu geben. Wichtig schien mir nun, die schnelle Beschaffung homöopathischer Mittel sicherzustellen. Um dies zu testen, wurde von mir einigen Kranken ein homöopathisches Mittel verordnet. Als uns der Apothekendirektor des Hauses auf bürokratische Schwierigkeiten hinwies, die zuerst ausgeräumt werden müßten, kam ich mit W. Siebert überein, den Kranken, die nun nach meiner Visite eine neue Medikation erwarteten, einige Tropfen Alkohol iners 3mal täglich zu verabreichen. Bei meinem nächsten Besuche erwähnte W. Siebert ein ganz interessantes Phänomen, das er und seine Mitarbeiter beobachtet hatten. Wir hatten bei der vorangegangenen Visite einigemale das Wort ‘Homöopathie’ erwähnt, so daß die Kranken, die arzneilosen Alkohol bekamen, meinten ein homöopathisches Medikament zu bekommen. Ein Teil dieser Kranken war darüber empört und beschwerte sich. Bei dem anderen Teile, den zur Homöopathie positiv eingestellten Kranken, trat bereits nach der Einnahme einiger Tropfen Alkohol eine Besserung
Literatur zu Seite 24
29. Planer, R.: Betrachtungen zum Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. In: Dtsch. Ztschr. f. Hom. 1927, S. 205.
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ein, manche sind sogar in diesen wenigen Tagen einigermaßen beschwerdefrei geworden. Nun war klar geworden, daß, wenn man objektive Befunde bekommen will, man diese positive oder negative Voreingenommenheit der Patienten ausschalten muß und das Wort ‘Homöopathie’ bei derartigen Überprüfungen strikte vermeiden, denn man will ja nicht feststellen, was der Glaube an das homöopathische Medikament alles vermag, sondern was das nach homöopathischen Grundsätzen sorgfältig ausgewählte Medikament als solches leistet.
IV.
Während des vom 8.-15.8.1937 in Berlin stattgefundenen Internationalen Homöopathischen Weltkongresses führte dessen Protektor in seiner Ansprache u.a. aus:(30)
‘Deutschland betrachtet es als eine staatspolitische Notwendigkeit, daß alle Erscheinungen daraufhin geprüft werden, wie weit sie dem Volke zu nutzen vermögen. Dieser Grundsatz hat für Heilmethoden im besonderen seine Anwendung zu finden. Denn die Heilmethoden haben direkten Einfluß auf die Grundlage des Lebens des ganzen Volkes: Durch Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit des Einzelnen. Es ist bekannt, daß nicht nur neue Heilmethoden, sondern auch solche, die ihren Ursprung schon in weiter Vergangenheit haben, wie es z.B. die Homöopathie heute schon von sich sagen kann, Anfeindungen unterliegen und Ablehnung auch von einzelnen Ärzten erfahren, ohne daß diese die Heilmethoden einer ernsthaften Prüfung unterzogen hätten.
Der Arzt aber ist der wesentliche Träger des Heilwesens; er ist deshalb vor allem dafür verantwortlich, daß wirklich alles Heilwissen und alle Heilkunst, die der Gesamtheit des Volkes dienlich sein können, auch in der Praxis Anwendung finden. Ich habe daher die Schirmherrschaft des XII. Internationalen Homöopathischen Kongresses in Berlin übernommen mit der Absicht, das Interesse des Staates an allen Heilweisen zum Ausdruck zu bringen, die der Volksgesundheit dienen. Zugleich möchte ich dabei die Ärzteschaft insgesamt auffordern, auch bisher abgelehnte oder gar angefeindete Heilmethoden unvoreingenommen zu prüfen. Es ist notwendig, daß diese unvoreingenommene Prüfung nicht nur in der Theorie, sondern vor allem auch an den praktischen Ergebnissen des Wirkens derer erfolgt, die zur Heilung anders geartete Methoden anwenden als die allgemein üblichen…’
Nunmehr hielt der Präsident des Reichsgesundheitsamtes, Prof. Reiter, die Zeit für gekommen, den jahrelangen Vorbereitungen für eine Überprüfung der Homöopathie die Tat folgen zu lassen. In feierlicher Sitzung im großen Saale des Reichsgesundheitsamtes fand im Herbste des Jahres
Literatur zu Seite 25
30. Der XII. internationale homöopathische Kongreß vom 8.-15. August in Berlin: Dtsch. Ztschr. f. Hom. Bd. 16, 1937, S. 308.
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1937 der Beginn der Überprüfung statt, der ‘größte Augenblick in der Geschichte der Homöopathie’, wie mir A. Stiegele beim Betreten des Saales zuflüsterte. Vor einem Gremium führender Vertreter der deutschen Medizin, es waren u.a. anwesend die Abteilungsdirektoren des Reichsgesundheitsamtes, des Institutes für Infektionskrankheiten ‘Robert Koch’, Ordinarien verschiedener Universitäten, vor allem Internisten und Pharmakologen, Vertreter der Tierärztlichen Hochschulen, Chefärzte der großen Berliner Krankenhäuser, darunter auch der Leiter der Homöopathischen Abteilung des Rudolf Virchow-Krankenhauses, dann Prof. L. R. Grothe vom Dresdner Rudolf Hess-Krankenhaus und homöopathischerseits A. Stiegele als Chefarzt des Stuttgarter Krankenhauses und der erste Vorsitzende der homöopathischen Ärzte H. Rabe.
In seiner Eröffnungsansprache führte der Präsident des RGA aus, daß diese Überprüfung in denkbar größtem Stile durchgeführt werden soll, falls sich in den ersten Jahren zeigen sollte, daß an der Homöopathie tatsächlich etwas dran ist. In diesem Falle sollen alle Universitäten und Forschungsinstitute herangezogen werden. Für die fälligen Forschungsarbeiten sollen nicht nur dutzende, sondern hunderte Millionen Reichsmark zur Verfügung gestellt werden. Man erwarte keineswegs, daß alles, was bisher von Homöopathen behauptet worden ist, auch tatsächlich richtig ist. Man wäre bereits vollkommen zufrieden, wenn nur 5% davon sich als richtig erweisen würden. Die Homöopathie wende nach seinen Informationen etwa 1000 verschiedene Medikamente an. Sollte sich ergeben, daß bei den kommenden Untersuchungen sich bei 50 Arzneien tatsächlich und sicher wirkende therapeutische Eigenschaften sicherstellen lassen, dann wäre dies doch ein äußerst zufriedenstellendes Ergebnis. Auch erwarte man keine Wunderheilungen, man wäre vollauf zufrieden, wenn es gelinge, etwa beim Typhus die meist drei Wochen dauernde hochfieberhafte Periode wesentlich abzukürzen oder die Rezidivhäufigkeit zu verringern, so daß die Gesamtliegedauer, die bei diesen Krankheiten doch meist ein Vierteljahr oder länger währt, um einige Wochen verkürzt werden könnte. Aber nicht nur auf dem Gebiete der Arzneiforschung und der Krankenbehandlung sollten sich die Überprüfungen abspielen, auch die Grundlagen, wie die Ähnlichkeitsregel und die immer noch umstrittene Arndt-Schulz’sche Regel sollten Gegenstand eingehender Untersuchungen werden. Des weiteren könnte wohl auch auf dem Gebiete der experimentellen Medizin mancher Beitrag
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geleistet werden. Er denke hier an Versuche bei künstlich infizierten Laboratoriumstieren, da hier große Serien mit und ohne Behandlung bearbeitet und so unter Umständen eindeutige Beweise zugunsten der Homöopathie geliefert werden können …..
Hier erfolgte ein Zwischenruf von homöopathischer Seite, in dem behauptet wurde, daß die Homöopathie auf einer ganz anderen Ebene liege. So würde beispielsweise Digitalis in immateriellen Verdünnungen, also einer C200 oder Cl000 an Menschen geprüft, die dann die für die Anwendung des Mittels wertvollen Symptome an sich entwickeln…
Eine peinliche Pause folgte, bis der neben mir sitzende Pharmakologe Wolfgang Heubner aufstand und zu dem Zwischenrufer gewandt sagte, daß die Digitalis die pharmakologisch am intensivsten erforschte Droge ist. Er würde gerne Neues dazu lernen. Er und seine Mitarbeiter brennen darauf, die nach vergeistigten Potenzen auftretenden Symptome an ihrem eigenen Körper kennenzulernen. Auch möchte er gern nachlesen, was bei derartigen Prüfungen einwandfrei festgestellt wurde, und bitte um Literaturangabe. Der auf ein ‘hic Rhodos, hic salta’ keineswegs vorbereitete Zwischenrufer mußte vor allen Anwesenden einen peinlichen Rückzug antreten.
Zwei Tage später kamen Teilnehmer der Eröffnungssitzung ins Krankenhaus, um von mir nähere Einzelheiten über die Ergebnisse einer mit der C1000 durchgeführten Digitalisprüfung zu erfahren. Ich mußte ihnen nähelegennahelegen, sich an den Zwischenrufer zu wenden. Wochen später kamen Professoren und Assistenten des Pharmakologischen Institutes in die Poliklinik, um sich wegen der Durchführung einer Hochpotenzprüfung mit Digitalis nähere Auskünfte zu holen. Sie beabsichtigten eine solche Prüfung durchzuführen, um sich ein eigenes Urteil über die tatsächliche Wertigkeit des homöopathischen Weges zur Erforschung der Arzneiwirkungen zu bilden.
Im Spätherbst 1937 begann der erste Arbeitskreis zur Überprüfung der Homöopathie mit seiner Tätigkeit. Ihm gehörten an der Vorsitzende der homöopathischen Ärzte, Prof. H. Rabe, der Internist Prof. W. Siebert und als Pharmakologen die Professoren Kuschinsky und Bonsmann. Zuerst wurden im Pharmakologischen Institut allgemeine Fragen über die Art der Durchführung von Arzneiprüfungen und der Wertigkeit der einzelnen Arzneibilder mit H. Rabe eingehend erörtert, denen dann
Literatur zu Seite 27
31. Donner, F.: Über die Ankurbelung der homöopathischen Forschung. In: Dtsch. Ztschr. f. Hom. 1932, Jg. 11, S. 183. (betr. Hochpotenzbehandlung mit Digitalis)
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spezielle folgten. Nun war H. Rabe in homöopathischen Dingen Autodidakt, der sich als Allgemeinpraktiker bis dahin kaum für das Zustandekommen der einzelnen Arzneibilder ernsthaft interessiert hatte. So kam es, daß er sich hinsichtlich all der mit Arzneiprüfungen zusammenhängenden Fragen ganz in die von vielen besonders kraß vertretenen Wunschbilder hineingelebt hatte, was nun in sehr peinlicher Weise zu Tage trat. Die regelmäßig zu mir kommenden Herren aus dieser Arbeitsgemeinschaft brachten mir fatale Schilderungen mit der Frage, wie so etwas eigentlich möglich sei. Ich konnte nur immer wieder auf die Tatsache hinweisen, daß infolge Fehlens entsprechender Forschungsinstitute und der schweren Zugänglichkeit des alten homöopathischen Schrifttumes sich die Mehrheit der homöopathischen Ärzte in Wunschvorstellungen über frühere Arzneiprüfungen hineingelebt haben, die natürlich in erheblicher Diskrepanz zu den nun mal vorliegenden Realitäten stehen.
Bei einem ihrer Besuche sprachen sie – so nebenbei – davon, daß auch gewisse Ableger der Homöopathie wie die Biochemie und gewisse Komplexverfahren zu den Überprüfungen herangezogen werden sollten. Man kam auch auf das Mittel Silicea zu sprechen, das man in Hochpotenzen nachprüfen wollte. Vor einem derartigen Unternehmen konnte ich nur warnen und vorschlagen, daß man Nachprüfungen besser mit anderen Mitteln und in ganz tiefen Potenzen beginnen sollte. Aber ich kam damit zu spät, denn die Nachprüfung von Silicea in Hochpotenzen war bereits beschlossene Sache. Ich erfuhr, daß H. Rabe dies vorgeschlagen und sich bei der weiteren Besprechung mehr und mehr in Voraussagen hineingesteigert habe, was dann alles so wunderbar dabei herauskommen werde, daß man dann beschloß, so wie H. Rabe es ausgeführt hat, soll die Prüfung durchgeführt werden, damit man dann sieht, was alles dabei herauskommen wird.
Die Siliceaprüfung wurde durchgeführt. Eine Hälfte der Prüfer erhielt Placebos, die andere das Mittel in der C30. Weder der Prüfungsleiter noch die mitbeobachtenden Herren wußten, wer Placebo und wer das Mittel eingenommen hat. Allgemein fiel während des Verlaufes der Prüfung auf, daß H. Rabe unter den von den Prüfern angegebenen Symptomen immer nach Siliceasymptomen angelte. Als eines Tages – möglicherweise wegen des naßkalten Wetters jener Tage oder weil die Prüfer zu lange in verqualmten Räumen gesessen hatten – zwei der Prüfer ein Feuchtigkeitsgefühl in der Nase angaben, war der nach Siliceasymptomen forschende Kollege hell begeistert und erklärte dies für ganz eindeutige
Literatur zu (etwa) Seite 28
32. Gisevius, Rabe: Aufruf des Deutschen Zentralvereins homöopathischer Ärzte. In: Dtsch. Ztschr. f. Hom. 1935, Jg. 14, S. l87ff.
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Silicea-Hochpotenzsymptome. Daraufhin kamen zwei mitbeobachtende Professoren zu mir ins Krankenhaus, um zu fragen, ob denn bei homöopathischen Arzneiprüfungen der Prüfungsleiter immer auch wisse, welches Mittel die Prüfer bekamen? Denn dann wären doch alle seit Hahnemann gemachten Nachprüfungen als durchaus zweifelhaft anzusehen, da er unter den angegebenen Symptomen dann die heraussuche, die etwa für das geprüfte Mittel sprechen können. Nun, so war es eben bis dahin leider. Ich hatte erlebt, daß O. Leeser bei seinen Arzneiprüfungen dann nachsah, ob unter den hunderten der von den Prüfpersonen gelieferten Symptomen auch welche darunter waren, die für das geprüfte Mittel sprechen könnten, und war hell begeistert, wenn das eine oder andere darunter war, worauf er die Prüfung als ‘positiv’ bezeichnete. Man kann natürlich hierüber verschiedener Meinung sein. Doch kehren wir zur Siliceaprüfung zurück. Nach Abschluß der Prüfung wurde die Liste geöffnet, die Angaben enthielt, welche Fläschchen Placebo enthielten und welche Silicea C30. Es stellte sich heraus, daß die beiden Prüfer, die eindeutige Siliceasymptome produziert haben, in Wirklichkeit nur Placebo erhalten hatten. Aus den sorgfältig geführten Protokollen konnte weder H. Rabe noch andere homöopathische Ärzte irgendwelche eindeutige Siliceasymptome herauslesen noch gar entscheiden, welche Gruppe der Protokolle von den Placebo- und welche von den Siliceaprüfer stammten. Die Prüfung war also vollkommen negativ verlaufen.
Im Jahre 1938 begann die klinische Nachprüfung auf der II. Inneren Klinik des Robert Koch-Krankenhauses. Ich wurde aufgefordert, an den Visiten von H. Rabe teilzunehmen und so Augenzeuge dessen, was sich ereignete. H. Rabe versuchte an von ihm selbst ausgesuchten Kranken eine homöopathische Behandlung, leider waren dies meist Erkrankungszustände, bei denen sich nach meiner langjährigen Krankenhauserfahrung keine wesentlichen Einwirkungen mittels homöopathischer Medikamente erzielen lassen. Über häufige Hinweise meinerseits ging er aber großzügig hinweg. Anscheinend lebte er hinsichtlich der klinischen Möglichkeiten der Homöopathie in derselben wirklichkeitsfremden Wunschwelt wie mit seinen Ansichten über Arzneiprüfungen. Und so kam es, wie es eben kommen mußte! Schließlich ist es eben etwas ganz anderes, ob man in freier Praxis als ein von seinen Kranken hochgeschätzter Arzt hauptsächlich psychosomatisch Kranke zu betreuen hat, wobei die Persönlichkeit des Arztes oft die dominierende Rolle spielte, oder ob man klinische Fälle vor sich hat, von denen keiner weiß, was hier vor sich geht und wer all die verschiedenen
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Ärzte sind, die bei der Visite mitgehen. Außerdem wurden Gespräche über die gewählten Mittel usw. erst vor der Türe erörtert und die Medikamente einige Tage später unauffällig eingesetzt, so daß auch all die aufmunternden Bemerkungen fehlten, mit denen viele Kollegen die Aushändigung eines Rezeptes begleiten.
Ende Januar 1939 stellte ich wegen einer Erkrankung meine Teilnahme an den Visiten vorläufig ein, wurde aber im April dringend zu einer wichtigen Besprechung gebeten. Man eröffnete mir, daß man bei Beginn der Überprüfung den Präsidenten des RGA davon informiert habe mit näherer Angabe, daß man Silicea prüfe und daß die Arbeiten im Krankenhaus aufgenommen worden wären. Jetzt sei ein Brief des Präsidenten eingetroffen, der um Auskunft bittet, was in diesen anderthalb Jahren an Positivem herausgekommen ist. Wahrheitsgemäß müßte man antworten, daß bei der Arzneiprüfung nichts herausgekommen ist und daß bei den klinischen Versuchen bei keinem einzigen Patienten eine irgendwie für eine therapeutische Wirkung der eingesetzten Arzneien sprechende Reaktion eingetreten ist. Man wies auf einen Krankenblattstapel hin und erklärte mir, daß dies die Krankenblätter der von H. Rabe behandelten Patienten wären.
Die nunmehr akut gewordene Situation sei bereits mit H. Rabe besprochen worden, er habe auch keinen Fall angeben können, bei dem seine therapeutischen Bemühungen irgendwie erfolgreich waren.
Um meine Meinung befragt, war ich mit meinem Gesprächspartner der Meinung, daß es nicht opportun wäre, bereits jetzt den negativen Verlauf der Überprüfung bekanntzugeben, und schlug vor, man möge mitteilen, es hätten sich bei den bisherigen Untersuchungen auf ungewohntem Terrain gewisse Schwierigkeiten bemerkbar gemacht, so daß man auf Grund der hier gesammelten Erfahrungen von anderen Gesichtspunkten aus neu beginnen wolle.
In kleinem Kreise, zu dem ich auch gebeten war, fand dieser Neubeginn statt. Man begann mit Erwägungen über die Nützlichkeit dieser Überprüfungen vor allem für die homöopathischen Ärzte, habe es sich doch bereits einwandfrei ergeben, daß vieles in den Arzneibildern fragwürdig und zu einem nicht unerheblichen Teile falsch wäre, was unter Umständen forensische Folgerungen für diese Mittel anwendende Kollegen haben könnte. Dann wurde das Repertorium von Kent hervorgeholt und H. Rabe gefragt, wie viele der Mittel, die unter den einzelnen Symptomenangaben angeführt werden, er für wirklich zuverlässig halte. Es entwickelte sich ein sehr interessantes,
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aber für die Homöopathie fatales Gespräch zwischen den Vertretern des RGA und H. Rabe, auf das vielleicht später an anderer Stelle eingegangen werden könnte; es möge genügen, daß nach langem Hin und Her zu guter Letzt H. Rabe zugeben mußte, daß er nur etwa 5% bis höchstens 10% der unter den einzelnen Symptomenangaben erwähnten Mittel für soweit stichhaltig halte, daß man erwarten könne, daß sie sich bei den vorgesehenen Nachprüfungen auch tatsächlich bestätigen werden. Anschließend wurden weitere Fragen über Arzneiprüfungen an H. Rabe gerichtet, wobei man auf seine früher gemachten und damals schriftlich fixierten Behauptungen zurückgriff. Mit seinen früheren Ansichten über Sepia konfrontiert, bestätigte er das damals gesagte und redete sich mehr und mehr in eine Begeisterung hinein, wie unter der Wirkung von Hochpotenzen bei den Prüfern dann die typischen Sepiasymptome mehr und mehr herausgekommen wären. Als man ihm darauf nahelegte, doch als zweite Prüfung eine mit Sepia durchzuführen, da konnte er naheliegenderweise nicht mehr zurück. Er wurde dann noch gebeten, ein schriftliches Exposé auszuarbeiten, wie die Prüfung durchgeführt werden solle und vor allem ausführlich darzustellen, welche charakteristischen Sepiasymptome dann unter Hochpotenzen zu erwarten sein werden.
Anschließend kam man auf die Homöotherapie der Thyreotoxikosen zu sprechen und auf das von ihm mitverfaßte Buch über ‘Basedow und Kropf'(35), das damals der Verlag in überschwenglicher Weise anpries: ‘Hier sehe man, was die Homöopathie kann’. H. Rabe äußerte sich betont zuversichtlich über die homöopathische Basedowbehandlung und meinte, wenn man klinische Möglichkeiten hätte, könnte man dies alles deutlich darstellen. Nun mußte er zur Kenntnis nehmen, daß er diese Möglichkeiten doch habe, man würde einfach eine Station mit Thyreotoxikosen belegen. Da eine Station ca. 50 Betten umfaßt, habe er bei einer Limitierung der klinischen Behandlungsdauer auf ein Vierteljahr die Möglichkeit, in einem Jahre 200 Thyreotoxikosen unter Heranziehung aller modernen diagnostischen Tests homöopathisch zu behandeln, so daß man dann ein eindeutiges Bild über das erhält, ‘was die Homöopathie hier tatsächlich kann’. Es wurde vereinbart, mit diesen therapeutischen Untersuchungen im Herbst 1939 nach den Ferien zu beginnen.
Als anschließend H. Rabe mit mir das Krankenhaus verließ, überraschte er mich mit der Bemerkung, er müsse jetzt dringend sehen, wie er diese Überprüfungen sabotieren könne. Einen stichhaltigen Grund habe er zwar
Literatur zu Seite 31
33. Schilsky, B.: Der Sepiamensch. In: Dtsch. Ztschr. f. Hom. 1929, Jg. 8, S. 273ff.
34. Fuhrmann, E.: Homöopathie und Grenzgebiete: Noch einmal Sepia. In: Dtsch. Ztschr. f. Hom. 1930, 9. Jg., S. 26.
35. Rabe, Salier, Erbe: Homöopathie und biologische Medizin bei Thyreotoxikose Basedow und Kropf. 1946, 2. Aufl.
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noch nicht gefunden, da alles so überaus korrekt und kollegial ihm gegenüber durchgeführt worden wäre. Hoffentlich falle ihm noch etwas ein, denn sonst müsse er zum Reichsgesundheitsführer Dr. Conti gehen und ihn dringend auffordern, die Überprüfungen der Homöopathie sofort abbrechen zu lassen, denn ‘wir können doch das gar nicht, was wir behaupten’ (wörtlich gesagt!!). Aber nach all dem, was er mit Conti, Rudolf Hess und Prof. Reiter in Sachen Homöopathie vorgebracht habe, könne er doch letzteres kaum tun. Er fuhr dann fort, daß es doch ‘heller Wahnsinn’ von den Beauftragten des RGA wäre, ‘das ernst zu nehmen, was wir, die wir doch nur kleine Praktiker sind, so sagen oder in unseren Zeitschriften veröffentlichen’ und sie einer wissenschaftlichen Überprüfung zu unterziehen wie etwa die Homöotherapie der perniziösen Anämie, des Diabetes, der Gonorrhoe usw. Und nun die Einrichtung einer Thyreotoxikosenabteilung zu planen, wäre doch ‘glatter Unsinn’, denn in Wirklichkeit können wir doch keine ausgesprochenen Thyreotoxikosen heilen. Als ich darauf hinwies, daß er sich doch hierüber sehr optimistisch geäußert und auch nicht gegen die Reklame des betreffenden Verlages protestiert habe, da gab er mir in längeren Gesprächen einen Einblick in seine Gedankenwelt und wie er die homöopathische Ärzteschaft als solche beurteile, worauf aber heute nicht eingegangen werden soll.
Auch über die vorgesehenen Arzneinachprüfungen und die damit zusammenhängenden Fragen äußerte er sich eindeutig: Wir sind einfache Praktiker, deren Interesse vor allem dem gilt, was man einem ins Sprechzimmer gekommenen Kranken gegen die von ihm geklagten Beschwerden geben soll. Und nun erwarte man, daß er Auskunft darüber geben könne, wie dieses oder jenes Mittel seiner Zeit geprüft worden ist und ob wir die darauf aufgebauten Arzneidarstellungen in diesem Falle für einigermaßen verläßlich und in jenem für in höchstem Grade fragwürdig ansehen. Und jetzt solle er noch ein Exposé für die vorgesehene Sepiaprüfung ausarbeiten! Was weiß man denn über Sepia? Möglicherweise sind alle in den Arzneimittellehren gebrachten Sepiasymptome reine Phantasiegebilde! Und nun soll er sich schriftlich festlegen, welche Symptome er nach Hochpotenzen erwarte! Auf meinen Hinweis, was er vor nur einer Stunde alles behauptet habe und wie sicher er ausführte, was nach Hochpotenzen alles so deutlich herauskomme, also Dinge, die doch in einem unüberbrückbaren Gegensatz zu dem stehen, was er jetzt sage, da meinte er: ‘Aber so stellen wir Homöopathen uns doch die Dinge vor!’ Den Beauftragten des RGA habe er immer die
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Homöopathie so vorgetragen, wie die homöopathischen Praktiker sich die Dinge vorstellen. Man konnte doch nicht ahnen, daß sie die Prüfungsquellen parat haben und somit vergleichen konnten, was tatsächlich gewesen ist und inwieweit die Realitäten von den Vorstellungen der Homöopathen divergieren. Er brach dann das Gespräch hierüber abrupt ab mit der Bemerkung, ich könne versichert sein, daß er eine ihm von den früheren Generationen eingebrockte Suppe habe auslöffeln müssen und diese Suppe sei für ihn sehr bitter gewesen! Er vertrat dann die Meinung, daß die Homöopathie möglicherweise gar keine pharmakotherapeutische Methode sei, wie bisher immer angenommen und wie auch von mir immer vertreten worden sei, sondern eine gewisse Form der Psychotherapie. Durch das überaus subtile Eingehen auf die verschiedenen, zuweilen durchaus nebensächlichen Symptome der Kranken und das umständliche Bearbeiten der erhobenen Befunde bei der Arzneimittelwahl, oft unter zeitraubender Heranziehung dickleibiger Arzneimittellehren und Repertorien, also durch ein Vorgehen, wie es die Kranken von anderen Ärzten her gar nicht gewohnt sind, könnte doch wohl eine Beeindruckung der Kranken erzielt werden, die dann von der psychischen Seite her uns noch unbekannte Heilwirkungsmechanismen im Gang bringen könnten, die zu Besserungen des Befindens und zu Beschwerdefreiheit führen.
War ich zuerst der Meinung, die eben erwähnten Ansichten als ‘situationsbedingt’ anzusehen, so muß ich mich hierin doch getäuscht haben, denn auch später hat er immer wieder diese Ansicht erwähnt und noch 15 Jahre später im homöopathischen Ärzteverein darauf hingewiesen, daß man mit dem Wissen um die Homöopathie noch ganz an der äußeren Oberfläche klebe und daß möglicherweise das ganze Tun und Handeln in Wirklichkeit nur eine larvierte Form einer Psychotherapie wäre.
Im Juni 1939 wurde ich zu Prof. A. von Domarus gebeten, der im Rahmen der vom RGA angeordneten Überprüfung der Homöopathie mit mir bestimmte Krankheitszustände wie perniziöse Anämie, Leukämien, Lymphogranulomatosen u.a.m. homöopathisch behandelt sehen wollte. Im Gegensatze zu den Professoren Bonsmann und W. Siebert, die durch jahrelange Teilnahme an meinen Krankenhausvisiten und Polikliniksprechstunden sich eingehendst mit der Homöopathie beschäftigt hatten, kannte von Domarus die Homöopathie nur aus den Berichten, die ihm seine Assistenten darüber geliefert hatten, was sie auf den Kursen des Berliner Vereins homöopathischer Ärzte alles zu hören bekommen haben. Ähnlich war auch
Literatur zu (etwa) Seite 33
36. Betr. Sepiaprüfung vgl. weiter oben.
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die Situation des Pharmakologen Druckrey, dessen Einblick in die Homöopathie sich auf das beschränkte, was renommierfreudige Kollegen teils vorgetragen oder veröffentlicht haben. Außerdem auf das, was H. Rabe seinerzeit bei Beginn der Überprüfungen den Beauftragten des RGA im Pharmakologischen Institute mitgeteilt hat.
Beiden Herren gegenüber mußte ich mich von manchem Unsinn distanzieren, der damals behauptet wurde, und ihnen nahelegen, zu den von ihnen in Aussicht genommenen Nachprüfungen jene Kollegen heranzuziehen, die solche Dinge behaupten. Auf Einzelheiten näher einzugehen, möchte ich mir hier versagen. Anfang Juli wollte von Domarus eine Prüfung von Sulfur durchführen. Meinen Hinweis, man solle ganz tiefe Dosen benützen, um Symptome zu erzielen, wie sie Louis Lewin seinerzeit in seinem Buche ‘die Nebenwirkungen der Arzneien'(37) beschrieb und wie sie auch bei einer langdauernden Sulfurprüfung aufgetreten waren, die L. J. Boyd38 durchgeführt hatte(38), wollte er erst nach den Ferien berücksichtigen und jetzt – unter einer gewissen Zeitnot, da in vier Wochen die Universitätsferien begannen -, eine Sulfurprüfung so durchführen, wie es die Homöopathie empfehle, also eine Woche eine Hochpotenz, eine eine mittlere und eine eine tiefere, etwa D6 oder D4. Ich sagte Domarus voraus, daß meines Erachtens dabei nichts herauskommen werde, und wurde auch deshalb im RGA vorstellig, wo ich den salomonischen Bescheid erhielt, man wolle doch die Homöopathie Überprüfen und da müsse man so vorgehen, wie die überwiegende Mehrzahl der homöopathischen Ärzte es darstelle.
Durch den Kriegsausbruch wurden die Überprüfungen jäh unterbrochen. Aber all diese Zeit war Bonsmann eifrig bemüht, Fragen um die Wertigkeit homöopathischer Arzneien in pharmakologischen Untersuchungen zu klären. Hier möge ein Hinweis auf seine für die Homöopathie so verdienstvollen Arbeiten genügen, über die er einiges bereits im Arch exp. Path. & Pharm. bekanntgegeben hat; abschließende Veröffentlichungen dürften einer persönlichen Mitteilung zufolge in Kürze erfolgen.
Bereits 1946 nahm W. Siebert zusammen mit dem damaligen Leiter des RGA wegen einer eventuellen Wiederaufnahme der Überprüfungen mit mir Fühlung auf. Später kam auch Bonsmann des öfteren zu mir, so erfuhr ich, daß das gesamte Material über die Vorbereitungen und die begonnenen Überprüfungen den Krieg überlebt hat, so daß man darauf zurückgreifend jederzeit neu beginnen könne. Er erwähnte, daß abgesehen von
37. Lewin, L.: Die Nebenwirkungen der Arzneimittel. 3. Aufl. 1899, S. 637 (betr. Sulfur).
38. Boyd, L. J.: ‘Eine Teilprüfung von Sulfur’ dtsch. v. F. Donner. In: Allg. Hom. Ztg. 1932, Bd. 180, S. 41ff.
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gewissen pharmakologischen Arbeiten bisher bei den Überprüfungen nichts Positives für die Homöopathie herausgekommen wäre, es sei denn, daß einwandfrei klargestellt worden ist, daß viele Ansichten, auch die ‘kritischer Ärzte’ auf Wunschvorstellungen basieren. Inzwischen habe aber die homöopathische Ärzteschaft ein Jahrzehnt Zeit gehabt, sich zu besinnen. Es wäre eine bedauerliche und für das Weiterbestehen einer Homöopathie gefährliche Illusion, wenn die homöopathischen Ärzte glaubten, sie könnten ruhig in derselben Weise weitermachen, wie sie es vor dem Kriege getan haben. Da damals die homöopathische Ärzteschaft noch keine Konsequenzen aus dem Fiasko gezogen hatte, das sie 1937 bis 1939 erlitten hatte, und da ich wußte, was alles für die verschiedenen Arbeitsgemeinschaften in Aussicht genommen war, ging ich erfüllt mit Sorge zu dem ersten Vorsitzenden H. Rabe und trug ihm die ganze Situation vor in Erwartung, daß er gewisse, nunmehr doch wohl absolut notwendige Schritte im Interesse eines Weiterbestehens der Homöopathie unternehmen wird. Leider war er unzugänglich, auch als ich mit höchst fatalen, hier in meinen Ausführungen noch gar nicht erwähnten Einzelheiten aus den bisherigen Überprüfungen aufwartete. Er meinte: Die Überprüfungen werden natürlich wieder kommen. Lassen wir unsere Kollegen doch ruhig reden und schreiben, was sie wollen. Wenn es dann soweit ist und sie ihre Behauptungen unter Beweis stellen sollen, dann müssen sie eben sehen, wie sie die Suppe, die sie sich eingebrockt haben, auch auslöffeln können. Er selbst habe bei diesen Überprüfungen ja auch eine bittere Suppe auslöffeln müssen!
V.
Mit dem vierten Kapitel ist mein Bericht über die ersten Jahre einer Überprüfung der Homöopathie durch das Reichsgesundheitsamt an und für sich abgeschlossen. Besonders fatale Dinge, die dabei des öfteren zu Tage traten, habe ich nicht erwähnt, sondern nur an einigen wenigen Beispielen zeigen wollen, wie die Situation in Wirklichkeit ist und was dabei herauskommt, wenn man das Wunschbild zu realisieren sucht, daß sich die größere Hälfte der homöopathischen Ärzte von den Arzneiprüfungen, den Arzneibildern und den therapeutischen Möglichkeiten ihrer Heilmethode macht. Da nach meinen Informationen demnächst mit einer Wiederaufnahme von Überprüfungen der Homöopathie zu rechnen ist, mögen meine Abhandlungen nicht nur als eine medizingeschichtlich interessante Abhandlung
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angesehen werden, sondern auch als ein Mahnruf an die führenden Kräfte der homöopathischen Ärzteschaft, denn die Zukunft des homöopathischen Gedankens in der Medizin wird davon abhängen, ob man sich ernsthaft bemühen wird, einen mehr oder weniger radikalen Abbau der Illusionen und eine vorsichtige Bestandsaufnahme der nunmal gegebenen Realitäten durchzuführen.
Das Fiasko, das die Homöopathie bei den erwähnten Überprüfungen erleiden mußte, ist keineswegs personell bedingt gewesen – was ich hier ganz eindeutig betonen möchte. Manch andere hierfür für andere Universitäten vorgesehenen Kollegen dürften kaum erfolgreicher gewesen sein, denn ausschlaggebend war doch die tatsächliche Situation innerhalb der Homöopathie. Hätte der Internationale Homöopathische Weltkongreß nur ein Jahr früher in Berlin stattgefunden, dann wäre auch ein Jahr früher mit den Überprüfungen begonnen worden, so daß die vorgesehenen Nachprüfungen von Sepia und die Überprüfung der Wertigkeit der Homöotherapie bei klinisch einwandfrei diagnostizierten Thyreotoxikosen noch vor Kriegsbeginn durchgeführt worden wären und wir über die hierbei festgestellten tatsächlichen Ergebnisse genau so im Bilde wären wie über die einer Apisnachprüfung durch Kollegen Walther Taube an der Universität Halle. Kann man als einigermaßen sicher annehmen, daß es Taube gelungen wäre, das ‘Säckchen am rechten unteren Augenlide’ eindeutig auszulösen, das nach seinen Angaben ‘bei den Prüfungen mit Potenzen immer und immer wieder aufgetreten ist’, wie auch das ‘Leitsymptom’ einer Durstlosigkeit bei einigen oder gar mehreren Prüfern?
Daß man seinerzeit nicht den Mut aufbrachte, gewisse, den älteren Kollegen damals direkt revolutionär anmutende Ergebnisse der Quellenforschungen, die 1927 einige der damaligen Assistenten des Stuttgarter Homöopathischen Krankenhauses trieben, ehrlich zu diskutieren, daraus die nun einmal nötigen Konsequenzen zu ziehen und sie allgemein im homöopathischen Schrifttume bekanntzugeben, hat sich doch sehr tragisch ausgewirkt. Viel Blamables wäre dann erspart geblieben.
Natürlich kann man nicht von heute auf morgen all das nachholen, was man vor 40 Jahren oder noch früher hätte beginnen und in Gemeinschaftsarbeiten ausarbeiten sollen. Man kann auch nicht erwarten, daß all die Kollegen, die sich in Wunschbilder verrannt haben, nun von heute auf morgen klarer sehen können. Im Hinblicke auf die kommenden Überprüfungen
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wäre aber schon viel erreicht, wenn die Führung des Zentralvereins homöopathischer Ärzte und ihr wissenschaftlicher Beirat überhaupt mal anfangen würde, sich um eine gewisse Klarstellung der wichtigsten Fragen zu bemühen.
Zu diesen dürfte doch vor allem gehören, daß man sich ernsthaft Gedanken darüber macht, was man tatsächlich zu können glaubt sowohl auf arzneiprüferischem wie auch auf therapeutischem Gebiet.
Die Antwort darauf dürfte für das Gebiet des Zustandekommens der Arzneibilder sehr leicht fallen! Die toxischen Wirkungen der Arzneien können wir jederzeit reproduzieren. Nehmen wir als Beispiel die Canthariden. Sie haben bekanntlich einen großen Ruf als Aphrodisiaka, da sie die Erigierfreudigkeit bei Männern erheblich steigern können. Man macht aber kaum noch Gebrauch von ihnen, wegen der häufigen, zuweilen sogar zum Tode führenden toxischen Nebenwirkungen bei oft nur geringfügiger Überdosierung. Näheres kann im 2. Bande der ‘Encyclopedia of Pure Materia Medica’ von Timothy Allen nachgelesen werden, der ein Arzneibild von 1651 Symptomen aus 112 fast ausschließlich toxikologischen Quellen zusammengestellt hat. Im Jahre 1927 wünschte ein von einer bekannten Medizinischen Universitätsklinik an das Stuttgarter Krankenhaus delegierter Kollege an einer Arzneiprüfung teilzunehmen, bei der – wie immer behauptet wird – mit höher potenzierten Arzneistoffen auch tatsächlich und deutlich Symptome auftreten. Ein sehr verständlicher Wunsch! Der Chefarzt des Krankenhauses A. Stiegele schlug die seiner Ansicht nach besonders gut durchgeprüften Mittel Mercurius und Cantharis vor. Die Wahl fiel dann auf Cantharis, das nur einen engbegrenzten Wirkungskreis hat. Es wurden dem Kollegen verschiedene Potenzen nacheinander verabreicht, aber die Prüfung blieb stumm. Man ging dann immer tiefer in der Dosierung herab, aber es traten keine der erwarteten Symptome auf. Dies regte mich dazu an, nachzusehen, was bei früheren Prüfungen eigentlich alles beobachtet worden ist. Zu meiner Überraschung mußte ich feststellen, daß das als besonders gut durchgeprüft bezeichnete Mittel noch gar nicht durchgeprüft worden ist. In Hahnemanns ‘Fragmenta de viribus medicamentorum positivis'(39) fand ich 95 Symptome angegeben, von denen 75 nur Zitate von 19 verschiedenen Autoren darstellten, die über Vergiftungserscheinungen nach Einnahme dieses Mittels berichteten, außerdem fügte er noch 20 von ihm selbst
Literatur zu Seite 37
39. Hahnemann, S.: Fragmenta de viribus Medicamentorum positivis … Pars prima. 1805, S. 57-63 (betr. Cantharides).
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beobachtete Erscheinungen hinzu. Das Mittel wurde aber von ihm später keiner weiteren Bearbeitung unterzogen, wir finden es weder in den verschiedenen Auflagen seiner ‘Reinen Arzneimittellehre’ noch in seinen ‘Chronischen Krankheiten’ erwähnt. Später brachten Hartlaub und Trinks in ihrer Arzneimittellehre(40) ein vollständiges Arzneibild, das 952 Symptome enthält, größtenteils Zitate aus Berichten über Vergiftungen oder Überdosierungen. Daraufhin stellte ich damals die Frage (1927) an die Chefärzte, ob man denn erwarten könnte, daß nach Einnahme von Cantharis in Potenzen, also in einer C30, D15, D6 und einer D4 tatsächlich die in den Arzneimittellehren niedergelegten Cantharissymptome auftreten werden, also schwere Erscheinungen an der Niere, der Blase, den Genitalorganen, der Haut und den Schleimhäuten des Verdauungstraktes? Aus ihren Reaktionen merkte ich sehr schnell, daß ich mit dieser Frage in ein Wespennest gefaßt hatte, denn sie berührte doch die Grundprinzipien ihrer homöopathischen Glaubensbekenntnisse. Mein Vorschlag, man möge die hier auftauchenden und für die Homöopathie so grundlegenden Probleme durch eine ausgedehnte Arzneiprüfung mit Placebokontrollen, wie sie damals bei Arzneiprüfungen am Hahnemann Medical College in Philadelphia durchgeführt wurden, von Grund auf klären, fand kein Verständnis. Die Kollegen waren eben vollkommen davon überzeugt, daß man mit Potenzen von Mercurius und Cantharis eindeutig entsprechende Symptome hervorbringen könnte. So kam es dann später dazu, daß A. Stiegele dem an homöopathischen Dingen interessierten Prof. F. Hoff Arzneiprüfungen mit diesen Mitteln in verschiedenen Potenzhöhen empfahl, die bekanntlich vollkommen negativ verliefen. Es dürfte wohl nicht unangebracht sein, wenn man sich in aller Ruhe die Frage vorlegen würde, ob A. Stiegele – eventuell mit Unterstützung seiner damaligen Oberärzte – bei einer Nachprüfung seiner Empfehlungen durch das RGA zu einem positiven Ergebnis gekommen wäre? Zu wünschen wäre dies sicherlich, aber wie hoch schätzen die Leser dieser Zeilen die Wahrscheinlichkeit hierfür ein?
Wie steht es überhaupt mit der Realität von Arzneiprüfungen mit höheren Potenzen? Können wir mit Sicherheit erwarten, daß wir, falls uns 50 Prüfpersonen zur Verfügung gestellt werden und wir je 25 davon einerseits Lycopodium und andererseits Arsenicum album in verschiedenen Potenzhöhen, also einer C30, D15, D12 und einer D6 verabreichen, dann auch erzielen, daß eindeutige Lycopodium- bzw.
Literatur zu Seite 38
40. Hartlaub, Trinks: Reine Arzneimittellehre, Bd. l, 1828, S. 63-126, B.-Nr. 2293.
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Arsensymptome auftreten, und zwar so deutlich, daß man sie auch als solche erkennen kann und auch in der Lage sein wird, anzugeben, wer von den 50 Prüfern Lycopodium und wer Arsen bekommen hat?
Es dürfte doch wohl empfehlenswert sein, daß der wissenschaftliche Beirat des Zentralvereins eindeutig zu diesen Fragen Stellung nimmt und klar und deutlich bekannt gibt, was er auf dem Gebiet der Arzneiprüfungen vertreten zu können glaubt, welche Mittel und welche Potenzen er an erster Stelle für diese Nachprüfungen vorschlägt und welche Ergebnisse er erwartet. Will er eventuell nur ganz behutsam an die Nachprüfungen herangehen und sie mit solchen Mitteln und Potenzen durchgeführt wissen, bei denen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit sich ein signifikanter Unterschied herausschälen wird zwischen den Aufzeichnungen in den Protokollen der Placebogruppe und denen derjenigen, die den Arzneistoff eingenommen hat. Man sollte möglichst frühzeitig sich mit den hier zusammenhängenden Fragen zu beschäftigen beginnen. Ein paar Jahre sind schnell um, und dann eventuell übereilt gefaßte Entschlüsse sind möglicherweise nicht die besten.
Ich selbst war immer der Meinung, daß neben den einwandfrei sicheren toxikologischen Symptomen man bei vielen Mitteln in der D3, D2, D1 und der Tinktur – letztere z.T. in größeren Gaben verabreicht – eindeutige Symptome erzielen kann. Ergebnisse von Nachprüfungen, die Pirtkien mit Bryonia und Belladonna mit Placebokontrollen durchgeführt hat, lassen es nicht unmöglich erscheinen, daß ich hier ebenfalls manchen Illusionen erlegen bin, so daß ich gewisse seinerzeit den Beauftragten des RGA gegebene Empfehlungen für die Durchführung von Arzneiprüfungen nicht mehr absolut aufrechterhalten kann.
Und was soll für den therapeutischen Sektor der vorgesehenen Überprüfungen vorgeschlagen werden? Leider ist immer noch nicht allgemein bekannt, daß sich seinerzeit bei vergleichenden therapeutischen Untersuchungen an Infektionskrankheiten wie Scharlach, Masern, Keuchhusten, Typhus u.a.m. zeigte, daß die Ergebnisse bei den Serien, die homöopathische Medikamente erhielten, gegenüber denen, die Placebo verabreicht bekamen, keinerlei Unterschiede hinsichtlich Krankheitsdauer, Komplikationshäufigkeit, Mortalität usw. zeigten (Chadwell, C. Wesselhoeft, weiterhin B. Schilsky und eigenen Versuche), so daß man annehmen muß, daß jene Kollegen, die die Behandlung dieser Krankheiten als einen ‘Glanzpunkt der Homöopathie’ bezeichneten, eben den normalen Krankheitsverlauf
Literatur zu (etwa) Seite 39
41. Wesselhoeft, C.: Nach Ref. Fritz Donner in: Allg. hom. Ztg. 1929, Bd. 177, S. 432ff. mit Diskussion. Das Referat ist dem Journal of the American Institute of Homoeopathy Juni 1924 entnommen.
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als einen großen Erfolg der von ihnen verordneten Medikamente ansahen. Derartige Täuschungen über den Wert einer eingesetzten Therapie sind bekanntlich keineswegs auf die homöopathischen Ärzte beschränkt, wie die zahlreichen Placeboforschungen der Schulmedizin ergaben. Ich möchte mir versagen, hier auf nähere Einzelheiten einzugehen. Wünschenswert dürfte es sicher sein, wenn für kommende Überprüfungen solche Krankheitszustände ausgesucht werden, bei denen in vergleichenden Versuchen ein Plus zu Gunsten der homöopathisch behandelten Patienten eindeutig herauskommen wird – bei denen sie also wesentlich günstiger abschneiden werden als Parallelfälle, denen unter sonst gleichen Bedingungen nur Placebo verabreicht wurde.
Zum Schluß möge ein weiterer Punkt noch kurz gestreift werden: Wer soll – sozusagen als Vertrauensmann des Zentralvereins – bei diesen Nachprüfungen tätig werden? Möglicherweise wird von der Wahl der Kollegen Erfolg oder Mißerfolg abhängen. Nach meinen von 1936 bis 1939 gemachten Erfahrungen erscheint es äußerst wünschenswert, daß der Zentralverein sein Vertrauen nur denjenigen erteilt, die eine ausgedehnte Sachkenntnis auf den anfallenden Gebieten besitzen. Daß es nicht leicht sein wird, mehrere entsprechende Kollegen aus der Nachkriegsgeneration herauszustellen, ist mir durchaus bewußt, zumal da neben Arzneiprüfungen sicher auch wieder auf klinisch-therapeutischem Gebiet Arbeiten verlangt werden, so daß die gewählten Kollegen auch darüber im Bilde sein sollten, wie heute ernsthaft klinisch gearbeitet wird. Vor allem müßten sie sich auch wirklich Zeit nehmen können, die hierzu nun einmal erforderlich ist. So ganz nebenbei – sozusagen mit dem kleinen Finger – sich bei diesen Nachprüfungen zu betätigen, dürfte nach meinen seinerzeitigen Eindrücken nicht der richtige Weg sein!
Anschrift des Verfassers:
Ärztlicher Direktor und Chefarzt i.R.
Dr. med. Fritz Donner,
Facharzt für Innere Medizin
1000 Berlin 37 – Zehlendorf
Gartenstraße 13/II
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